01 - komplett
gegeben ohne die Erwartung einer Gegenleistung. So wie Liebe.“
Sie sah zu ihm auf. Das leidenschaftliche Funkeln ihrer Augen verblüffte ihn. „Und das wollte ich dir zeigen.“
Die vertrauensvolle Zuversicht in ihrem Blick blieb ungebrochen. Er hatte ihr die Jungfräulichkeit genommen. Wie war es möglich, dass sie sich ihre Unschuld erhalten hatte?
„Ich weiß nicht, was Liebe ist“, entfuhr es ihm fast bestürzt.
Wortlos schüttelte sie ihren Umhang aus und legte ihn sich um die Schultern. Jetzt war der wunderschöne Körper, den er vor nur wenigen Minuten noch in seinen Armen gehalten und auf das Intimste kennengelernt hatte, wieder unter dem dicken Stoff verborgen. „Nun, vielleicht wirst du es eines Tages ja noch erfahren“, entgegnete sie.
Damit ging sie an ihm vorbei und verließ das Zimmer. William lauschte ihren sich entfernenden Schritten, die sie für immer aus seinem Leben trugen.
3. KAPITEL
Es war später Nachmittag, als Lavinia langsam die Treppe zu den privaten Räumen über der Leihbibliothek emporstieg. Jeder Muskel ihres Körpers, so erschien es ihr, schmerzte.
„Lavinia?“ Der schwache Ruf ihres Vaters ließ sie aufblicken, als sie eintrat. „Bist du es?“
„Ja, Papa.“ Sie nahm den Umhang ab, hängte ihn über einen Haken an der Tür und schlüpfte aus ihren Stiefeletten. „Nach dem Gottesdienst habe ich noch einen kleinen Spaziergang unternommen. Ich mache mich kurz frisch und bin gleich bei dir.“
Rasch begab sie sich in ihr eigenes Zimmer.
Im Großen und Ganzen unterschied es sich nicht so sehr von Williams. Die Wände waren weiß gestrichen, die Möbel schlicht und auf das Nötigste beschränkt: Waschtisch, Bett, Stuhl und eine Kommode. Lavinia schütte etwas Wasser in die Schüssel und betrachtete sich im Spiegel, während sie sich das Gesicht wusch.
Sie wusste, was sie zu sehen erwartet hatte – das Gesicht eines Mädchens, das man ruiniert hatte, das einer Frau ohne Anstand.
Stattdessen sah sie genauso aus wie heute Morgen nach dem Aufwachen. Nichts entlarvte sie als unkeusch. Sie hatte etwas Ungeheuerliches getan, doch ihre Augen funkelten nicht ruchlos, und auch ihr Körper fühlte sich noch immer gleich an, nur dass er überall schmerzte.
William liebte sie nicht. Das war es, was sie sehr viel mehr bedrückte.
Die rückhaltlose Vernarrtheit, die sie noch vor wenigen Stunden empfunden hatte, hatte sich in etwas sehr Verwirrendes verwandelt. Lavinia wusste nicht genau, ob es sich bei diesem seltsamen Gefühl um Liebe handelte. Vielleicht war es auch nur eine unbestimmte Sehnsucht nach Liebe gewesen. Vielleicht war es vom ersten Moment, seit sie William vor einem Jahr gesehen hatte, nicht mehr als das gewesen.
Seine unverblümte Art, ihr einen unsittlichen Antrag zu machen, hatte sie nicht wenig getroffen. Allerdings hatte sie nicht lange gebraucht, um zu erkennen, warum er sich ihr auf eine so erschreckend grobe Weise genähert hatte. Sie war sicher, dass es sich bei William um einen zutiefst unglücklichen Menschen handelte.
Vorhin war ihr erster Eindruck gewesen, dass ihr Zimmer Williams sehr ähnelte.
Doch die Unterschiede zeigten etwas sehr Wichtiges auf. Ihr Zimmer war erfüllt von neunzehn Jahren glücklicher und auch trauriger Erinnerungen. Auf ihrer Kommode lag ein blaues Schultertuch, ein Geschenk ihres Vaters. Neben dem Spiegel hing eine Zeichnung mit Gänseblümchen, die James ihr vor zwei Jahren geschenkt hatte. In einem Holzkästchen befand sich ihr Schmuck – eine Goldkette und der Ehering ihrer verstorbenen Mutter. All dies waren nicht nur tote Gegenstände. Es waren Erinnerungen an so viele wichtige Momente ihres Lebens. Sie bewiesen, dass man sie liebte.
Ihr Bruder besaß ähnliche Schätze, wie zum Beispiel einen Stein, den er vor Jahren am Strand von Brighton gefunden hatte, den Perlenanhänger, den er von seiner Mutter geerbt hatte und eines Tages seiner Frau geben würde, und das Taschenmesser, für das sie so lange gespart hatte, um es ihm zu seinem fünfzehnten Geburtstag zu schenken.
Wo bewahrte William seine Erinnerungen auf? In seiner Unterkunft war ihr nichts aufgefallen. Kein einziger Gegenstand wies darauf hin, dass ein anderer Mensch Teil seines Lebens gewesen war. Vielleicht hatte sie deswegen den Eindruck gehabt, er müsse unendlich einsam sein.
Jedenfalls konnte sie sich nicht vorstellen, jemand würde kein einziges Andenken aufbewahren, wenn er ein glückliches Leben führte. Dass William geglaubt hatte, er müsse
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