01 - Nacht der Verzückung
Haarsträhne, die sich in ihrem Mundwinkel verfangen hat.
Ihre Haut ist weich - und warm. Das Haar ist nass. Er verspürt ein wildes
Verlangen in seiner Leistengegend und zieht den Finger hastig zurück.
Sie
lächelt ihn an. Doch dann tut Lily etwas sehr Seltenes. Sie errötet und ihre
Augen flackern, wenden sich ruckartig ab und blicken wieder ins Tal.
Sie
weiß es.
Der
Gedanke macht ihn traurig. Lily ist immer seine Freundin gewesen, seit Doyle
vor vier Jahren sein Sergeant wurde. Sie hat einen regen Verstand und einen
köstlichen Sinn für Humor und verfügt, obwohl sie Analphabetin ist, über eine
natürliche Kultiviertheit. Sie hat ihm von ihrem Leben erzählt, besonders von
den Jahren in Indien, wo ihre Mutter starb, und von Menschen und Erfahrungen,
die sie beide kennen. Einmal hat sie sich mit ihm angelegt, als er sie nach
einem Gefecht auf dem Schlachtfeld fand und sie maßregelte, weil sie sich um
einen verwundeten und sterbenden französischen Soldaten kümmerte. Ein Mann ist
einfach ein Mann, ein menschliches Wesen, hatte sie zu ihm gesagt. Sie hat sich
nie von seinem Rang einschüchtern lassen und redet ihn dennoch, wie ihr Vater
und alle anderen Soldaten, mit »Sir« an. Er hat sich neben sie gekniet und dem
Franzosen aus seiner eigenen Feldflasche zu trinken gegeben.
Doch
die Dinge haben sich verändert. Lily ist erwachsen geworden. Und er begehrt
sie. Sie weiß es. Er wird sich aus dieser Freundschaft zurückziehen müssen,
weil Lily unmöglich mehr für ihn sein kann als eine Freundin. Sie ist Sergeant
Doyles Tochter und er respektiert Doyle, obwohl sie aus unterschiedlichen
sozialen Schichten kommen. Doch vor allem ist Lily unbefleckt und es ist seine
Pflicht, ihre Ehre zu schützen, statt sie ihr zu nehmen. Und natürlich gehört
auch sie einer anderen Klasse als der seinen an. In der wirklichen Welt haben
solche Dinge leider Gewicht. So rebellisch er auch sein mag, er hat nie mit
seiner eigenen Welt gebrochen und wird es auch nie tun. Dazu hat er ein viel zu
tief verwurzeltes Pflichtgefühl. Er ist ein Gentleman, ein Offizier, ein
Viscount, ein zukünftiger Graf.
Er wird
niemals Lilys Liebhaber sein können.
»Lily«,
fragt er sie und versucht, an seiner Freundschaft festzuhalten und die anderen,
unwillkommenen Gefühle zu unterdrücken, »was erhoffst du dir? Was willst du aus
deinem Leben machen? Was sind deine Träume?«
Sie
kann nicht für immer bei ihrem Vater bleiben. Was wird die Zukunft bringen? Die
Heirat mit einem Soldaten, den ihr Vater sorgfältig für sie ausgesucht hat?
Nein. Er wünscht sich, er hätte nicht daran gedacht.
Sie
antwortet nicht sofort. Doch als er sich erneut zu ihr umdreht, sieht er, dass
sie nach oben blickt und dass ihr wundervolles, verträumtes Lächeln ihr Gesicht
wieder strahlen lässt.
»Seht
Ihr diesen Vogel, Sir?« Er hebt den Kopf und sieht ihn. »Ich möchte so sein wie
er. Mich emporschwingen können. Stark sein. Frei. Vom Wind getragen werden und
Freund des Himmels sein. Ich weiß nicht, was aus mir werden wird. Eines Tages
werdet Ihr fort sein und eines Tages ...«
Doch
ihre Stimme bricht ab und ihr Lächeln verschwindet und das eben Gesagte schwebt
beinahe greifbar zwischen ihnen.
Dann
zerreißt das Krachen eines Schusses die Stille.
***
Einer der
Wachtposten hat aus dem Augenwinkel ein Kaninchen gesehen und es für ein
raubgieriges französisches Heer gehalten. Das ist Nevilles erster Gedanke. Aber
er darf kein Risiko eingehen. Seine Jahre als Offizier haben ihn gelehrt,
zugleich instinktiv und verstandesmäßig zu handeln. Es geht schneller und
manchmal rettet es Menschenleben.
Er
springt auf und reißt Lily hoch. Sie rennen zurück zur Kompanie, wobei Neville
sich von hinten schützend über sie beugt, selbst als Sergeant Doyle sie
anbrüllt und alle anderen zu Büchsen und Munition greifen. Noch während er
rennt, überprüft Neville den Säbel an seiner Seite. Er schreit seinen Männern
Befehle entgegen und vergisst Lily, sobald sie sich in der relativen Sicherheit
des behelfsmäßigen Lagers befindet.
Er hat
dem Wachtposten Unrecht getan. Es ist kein Kaninchen, das seine Aufmerksamkeit
erregt hat - es ist ein französischer Spähtrupp. Aber der Warnschuss war
ein Fehler. Ohne ihn wären die Franzosen wahrscheinlich friedlich
weitergezogen, selbst wenn sie die britischen Soldaten entdeckt hätten. Keine
der beiden Seiten hat Interesse an einem Kampf. Aber der Schuss ist gefallen.
Das
darauf folgende Scharmützel ist kurz und
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