01 - Nacht der Verzückung
heftig, aber relativ harmlos. Es wäre
ganz und gar harmlos gewesen, wäre ein junger Rekrut aus Nevilles Kompanie
nicht vor Schreck auf dem blanken Hügel zu einer reglosen Zielscheibe für die
Franzosen erstarrt. Sergeant Doyle eilt ihm unflätig fluchend zur Seite und
wird von der Kugel in die Brust getroffen, die für den jungen bestimmt war.
Der Kampf
ist nach fünf Minuten beendet. Mit einem spöttischen Gruß ziehen die Franzosen
ihres Weges.
»Lass
ihn liegen!«, schreit Neville, während er über den Hang zu seinem
niedergestreckten Sergeant rennt. »Holt die Verbandskiste.«
Doch es
ist sinnlos. Das sieht er sofort, als er neben ihm stehen bleibt. Auf dem Stoff
des dunkelgrünen Mantels seines Sergeants ist nur ein kleiner Blutfleck zu
sehen, aber der Tod steht ihm im Gesicht geschrieben. Neville hat ihn auf zu
vielen Gesichtern gesehen, um sich zu täuschen. Und auch Doyle weiß es.
»Mit
mir geht's zu Ende, Sir«, sagt er mit schwacher Stimme.
»Holt
die verdammte Verbandskiste!« Neville kniet sich neben den Sterbenden. »Wir
werden Euch in Rekordzeit wieder zusammengeflickt haben, Sergeant.«
»Nein,
Sir.« Mit Fingern, die schon kalt und kraftlos geworden sind, krallt sich Doyle
an seine Hand. »Lily.«
»Sie
ist in Sicherheit. Sie ist unverletzt«, versichert ihm Neville.
»Ich
hätte sie nicht mitnehmen dürfen.« Die Augen des Mannes werden blicklos. Sein
Atem ist nur noch ein rasselndes Keuchen. »Wenn sie wieder angreifen ...«
»Das
werden sie nicht.« Nevilles Finger schließen sich um die seines Sergeants. Er
macht ihm nichts mehr vor. »Ich werde Lily morgen sicher zum Stützpunkt
zurückbringen.«
»Wenn
sie gefangen genommen wird ...«
Das ist
höchst unwahrscheinlich, selbst wenn es zu einem weiteren Aufeinandertreffen,
zu einem weiteren Gefecht kommen sollte. Sicherlich haben die Franzosen zu
dieser Jahreszeit genauso wenig Interesse an Auseinandersetzungen wie die
Briten. Sollte es ihr allerdings zustoßen, wäre ihr Schicksal fürchterlich.
Vergewaltigung ...
»Ich
werde für ihre Sicherheit sorgen.« Neville beugt sich über den Mann, der sein
hoch geschätzter Kamerad gewesen ist, sogar sein Freund, trotz ihres unterschiedlichen
Ranges. Sein Herz steht diesem Tod näher als sein Verstand. »Es wird ihr nichts
geschehen, selbst wenn sie gefangen genommen werden sollte. Darauf gebe
ich Euch mein Wort als Gentleman. Ich werde sie noch heute heiraten.«
Als
Frau eines Offiziers und Gentleman würde Lily auch von den Franzosen ehrenhaft
und zuvorkommend behandelt werden. Und Reverend Parker-Rowe, der
Regimentskaplan, der das Lagerleben so langweilig findet wie der
tatendurstigste Soldat, hat den Spähtrupp begleitet.
»Sie wird
meine Frau werden, Sergeant. Ihr wird nichts geschehen.« Er ist sich nicht ganz
sicher, ob der Sterbende ihn versteht. Die kalten Finger umfassen noch kraftlos
die seinen.
»Mein
Tornister auf dem Stützpunkt«, sagt Sergeant Doyle. »In meinem Tornister ...«
»Lily
wird ihn bekommen«, verspricht Neville. »Morgen, wenn wir sicher zum Lager
zurückgekehrt sind.«
»Ich
hätte es ihr schon lange sagen sollen.« Seine Stimme wird schwächer,
undeutlicher. Neville beugt sich zu ihm hinab. »Ich hätte es ihm sagen sollen.
Meine Frau ... Gott vergib mir. Sie liebte sie. Wir beide. Wir liebten sie zu
sehr, UM ...«
»Gott
vergibt Euch, Sergeant.« Wo zum Teufel bleibt der Kaplan? »Und niemand
hat jemals an Eurer Hingabe zu Lily gezweifelt.«
Parker-Rowe
und Lily treffen gleichzeitig ein, wobei sie in halsbrecherischer
Geschwindigkeit den Hügel herunterjagt. Neville erhebt sich und tritt zur
Seite. Lily nimmt seinen Platz an der Seite ihres Vaters ein, umfasst seine
Hand mit ihren Händen und beugt sich tief über ihn. Ihr Haar bildet einen
Vorhang vor ihrer beiden Gesichter.
»Papa«,
sagt sie. Immer und immer wieder flüstert sie seinen Namen und verharrt einige
Minuten in dieser Haltung, während der Kaplan Gebete murmelt und die Kompanie
daneben steht, hilflos im Angesicht des Todes und der Trauer.
***
Nachdem sie
Sergeant Doyle auf dem Hügel, auf dem er starb, beerdigt haben, befiehlt
Neville, das Lager zwei oder drei Meilen entfernt aufzuschlagen. Er geht neben
Lily, die mit erstarrten Gesichtszügen dahinschreitet, Parker-Rowe an
ihrer anderen Seite. Er hat bereits mit dem Kaplan gesprochen.
Lily
hat nicht geweint. Kein Wort hat sie gesprochen, seit Neville sie bei den
Schultern genommen und aufgehoben und ihr zartfühlend mitgeteilt
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