01 - Nacht der Verzückung
Vauxhall ungeahnte Höhen erreicht. Davon abgesehen
waren Einladungen zu Elizabeth' exklusiven Festen stets heiß begehrt.
Lily
wählte ihre Garderobe für diesen Anlass sorgfältig aus. Sie wollte sich
amüsieren und sie wollte ihre Sache gut machen. Als Mitglied des Haushaltes
hatte sie in gewissem Sinne die Rolle einer Gastgeberin zu übernehmen, und das
bedeutete eine völlig neue Herausforderung für sie.
»Was
meinst du, Dolly?«, fragte sie ihre Zofe, bevor sie nach unten ging. »Bin ich
schön oder bin ich schön?« Sie vollführte eine Pirouette.
»Also,
ich weiß wirklich nicht, ob diese beiden Worte treffend sind, Mylady«, sagte
Dolly, den Kopf zur Seite geneigt und eine Fingerspitze am Kinn - Dolly
hatte nie aufgehört, sie anzureden, als wäre sie eine Gräfin. »Wenn Ihr mich
fragt - was Ihr ja tut -, würde ich sagen, Ihr seid schön.«
Sie
lachten beide über den albernen Witz.
»Ihr
seht in Weiß immer bezaubernd aus«, fuhr Dolly fort. »Und viele Damen würden
für diese Unmengen edler Spitze töten. Allerdings fehlt noch etwas Schmuck.«
»Die
Diamanten oder die Rubine?«
Sie
kicherten erneut und Lily nahm das Medaillon aus der Schublade neben ihrem
Bett. Sie hatte es seit Vauxhall nicht getragen - seit jenem besonderen
Anlass, der so katastrophal geendet hatte. Aber sie würde nicht dem Aberglauben
verfallen. Sie legte eine Hand darauf, nachdem Dolly es in ihrem Nacken
verschlossen hatte. 0 ja, er hatte Recht gehabt, dachte sie und schloss kurz
die Augen. Das Medaillon schien ihren Papa näher zu bringen und erinnerte sie
an ihre Mama. Aber vor allem erinnerte es sie an ihn, der mit ihr zum
Juwelier gegangen war und die Kette hatte reparieren lassen, sodass sie es
wieder tragen konnte.
»Er
wird zurückkommen, Mylady«, sagte Dolly.
Lily
sah sie verblüfft an. Ihre Zofe nickte weise.
»Gütiger«,
log Lily, »ich habe nicht einmal an ihn gedacht.«
»Woher
wisst Ihr dann, von wem ich gesprochen habe?«, fragte Dolly keck und brach
erneut in fröhliches Gelächter aus.
Lily
lächelte noch immer, als sie nach unten ging. Die ersten Gäste trafen fast
augenblicklich ein und sie hatte keine Zeit für weiteres Brüten oder
Nachdenken. Sie konzentrierte sich auf ihre Haltung und ihr Lächeln, musste
zuhören und die richtigen Antworten geben. Alles in allem war es nicht
schwierig, sich in der adligen Gesellschaft zurechtzufinden. Und die meisten
waren nett zu ihr.
Ungefähr
eine Stunde später befand sie sich mit Elizabeth, dem Marquis von
Attingsborough und zwei anderen Gentlemen in der Bibliothek. Mr. Wylie hatte
sie im Salon gefragt, ob sie sich schon in einer der Büchereien eingeschrieben
habe, und der Marquis hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Miss Doyle
nicht lesen könne, was ihr aber unmöglich vorzuwerfen war, da sie mit
Sicherheit eine der bezauberndsten jungen Damen der Stadt sei. Lily war dumm
genug gewesen einzuwenden, dass sie sehr wohl lesen könne.
Joseph
hatte sie angegrinst. »Weißt du, Lily«, hatte er gesagt, »Menschen, die
flunkern, kommen sofort in die Hölle, wenn sie sterben.«
»Ich
kann es dir beweisen«, hatte sie erklärt.
Das war
der Grund, warum sie in die Bibliothek gegangen waren. Lily hatte den Marquis
herausgefordert, irgendein Buch aus irgendeinem Regal zu nehmen, und sie würde
den ersten Satz laut vorlesen.
»Gibt
es hier Bücher mit Predigten, Elizabeth?«, fragte er und schaute die Regale
entlang.
»Fürwahr«,
sprach Mr. Wylie zu Lily, »mir würde Euer Wort genügen, Miss Doyle. Ich bin
sicher, dass Ihr gewiss recht gut lesen könnt. Und wenn schon, ich denke nicht,
dass es eine Rolle spielt, wenn es nicht so wäre. Ich habe nur Konversation
betrieben.«
»Galanterie
den Damen gegenüber«, sagte Elizabeth, »war noch nie Josephs Stärke, Mr. Wylie.
Es gibt hier keine Predigten, Joseph. Davon höre ich sonntags in der Kirche
genug.«
»Eine
Schande«, murmelte er. »Ah, hier, das ist gut: Die Pilgerfahrt.« Mit
großen Gebärden zog er den in Leder gebundenen Band aus dem Regal und schlug
die erste Seite auf, bevor er Lily das Buch reichte.
Sie
lachte und war zugleich schrecklich aufgeregt. Und sie geriet sogar noch mehr
in Verlegenheit, als noch jemand den Raum betrat und sie sah, dass es der
Herzog von Portfrey war. Er musste soeben eingetroffen sein und war gekommen,
Elizabeth zu begrüßen.
»Ah,
Lyndon«, sagte sie, »Joseph hat Lily beleidigt, indem er behauptete, sie sei
Analphabetin. Sie ist gerade dabei, ihn vom
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