01 - Nacht der Verzückung
ja, nur einen Blick auf dich werfen zu können. Wenn bekannt
wird, dass du bei mir lebst, werden wir mit Einladungen überhäuft werden. Aber
wir werden sie alle ein wenig warten lassen. Wenn du dann in Erscheinung
trittst, Lily, wirst du London im Sturm erobern. Denn außer deiner Geschichte
ist da noch deine natürliche Schönheit und Anmut und dein natürlicher Charme.
Und wenn du dich schließlich zeigst, werden wir dem noch die Kultiviertheit
vornehmer Umgangsformen und eleganten Auftretens hinzugefügt haben. Ich wage zu
behaupten, dass du einen Herzog heiraten könntest, wenn du es wolltest -
und wenn ein passender verfügbar ist.« Sie lachte leise. Sie amüsierte sich
köstlich.
»Ich
werde niemals heiraten«, sagte Lily und ignorierte den Rest des erschreckenden -
und zweifellos aufregenden - Bildes, das Elizabeth ihr soeben ausgemalt
hatte. Sie legte die Hände auf die Handschuhe, die in ihrem Schoß lagen.
»Warum
nicht?« Die Frage war leise gestellt, aber verlangte nach einer Antwort.
Lily
war eine lange Zeit still. Weil ich bereits verheiratet bin. Weil ich ihn
liebe. Weil ich mit ihm geschlafen und ihm nicht nur meinen Körper, sondern
alles von mir gegeben habe. Weil ... weil, weil.
»Ich
kann nicht«, sagte sie schließlich. »Du weißt, warum.«
»Ja,
mein Liebes.« Elizabeth langte herüber und drückte ihre Hand. »Es ist mir zu
abgedroschen, dir zu versichern, dass die Zeit alle Wunden heilt. Ich habe
niemals etwas auch nur annähernd so Intensives erfahren wie das, was du
erlitten hast und noch erleidest, und deshalb kann ich nicht mit Überzeugung
behaupten, dass solch große Wunden wie die deinen jemals heilen werden. Aber du
bist eine sehr tapfere Frau und hast einen starken Charakter, Lily. Ich bin
sicher, dass ich mit dieser Einschätzung nicht falsch liege. Du wirst leben, mein Liebes. Du wirst nicht bloß weiter existieren. Ich werde dir die
Unterstützung meines Vermögens und meiner Verbindungen zuteil werden lassen,
aber es bleibt dir überlassen, sie dir zunutze zu machen. Du hast mein vollstes
Vertrauen.«
Lily
war sich nicht sicher, ob sie dem gerecht werden konnte. Ihre Stimmung, die das
Realität gewordene Spiel mit dem Reiz neuer Träume in ungeahnte Höhen hatte aufsteigen
lassen, sank wieder. Mit jeder Hecke und jedem Meilenstein, den sie hinter sich
ließen, wurde die Entfernung zwischen ihr und ihm größer, eine Entfernung, die
nie wieder überbrückt werden konnte. Sie war sich in jenem Augenblick nicht
sicher, ob sie überhaupt weiter existieren wollte, ganz zu schweigen von der
Anstrengung zu leben.
»Danke«,
sagte sie.
»Sag
einmal.« Elizabeth ergriff erneut das Wort, nachdem sie eine Zeit lang
geschwiegen hatte. »Was ist dir in all diesen Monaten widerfahren, während
Neville dich für tot hielt?«
Lily
schluckte. »Möchtest du die Wahrheit hören?«, fragte sie.
»Mir
kam der Gedanke«, sagte Elizabeth, »dass die Franzosen die Briten
benachrichtigt hätten, wenn sie die Frau eines Offiziers über einen gewissen
Zeitraum gefangen gehalten hätten. Sie hätten einen für sie günstigen
Gefangenenaustausch gegen einen oder mehrere ihrer Offiziere, die von den
Briten gefangen gehalten wurden, fordern können. Das ist nicht geschehen,
oder?«
»Nein«,
sagte Lily.
»Lily«,
sagte Elizabeth, noch bevor diese weitersprechen konnte, »obwohl ich fürchte,
dass du mir nicht gestatten wirst zu vergessen, dass du meine Angestellte bist,
möchte ich dich wissen lassen, dass es dir immer freisteht, deine Privatsphäre
vor mir zu schützen. Es besteht für dich kein Zwang, mir irgendetwas
preiszugeben. Aber du bist unter Männern aufgewachsen, mein Liebes. Vielleicht
hattest du nicht das Vergnügen, eine Freundin deines eigenen Geschlechts zu
haben, jemanden, der deine Sicht der Ereignisse und deine Erfahrungen teilen
konnte.«
Lily
erzählte ihr alles. All die schmerzvollen, scheußlichen, erniedrigenden
Einzelheiten, die sie Neville an jenem Tag in der Hütte vorenthalten hatte, den
Kopf in die Kissen zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Als sie geendet hatte,
lag ihre Hand erneut in Elizabeth' festem Griff. Ihre Berührung war seltsam
Trost spendend - die Berührung einer Frau, die das Mitempfinden einer
Frau vermittelte. Elizabeth konnte verstehen, was es bedeutete, eine Gefangene
zu sein, der Freiheit beraubt, und schließlich als letzte Erniedrigung den
eigenen Körper entehrt zu wissen und zum Vergnügen seines Häschers benutzt zu
werden. Eine Frau
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