01 - Nacht der Verzückung
sich immer wieder, was er wohl in genau diesem Augenblick tat.
Nachdem
Joseph ihnen wieder in die Kutsche geholfen hatte und sie weiterfuhren, nahm
Elizabeth ihr unterbrochenes Gespräch wieder auf.
»Also
gut, Lily«, sagte sie und tätschelte ihr liebevoll das Knie. »Ich sehe schon,
die nächsten ein, zwei Monate mit dir werden sehr interessant werden. Habe ich
gestern das Wort Spaß gebraucht? Die kommenden Monate werden gewiss ein Spaß
sein - ja, das ist genau das richtige Wort. Wir, mein Liebes, werden
unter Mithilfe der besten Lehrer, die ich auftreiben kann, aus dir eine Dame
machen, mit der Bildung und den Fähigkeiten einer Dame - alles in ein
oder zwei oder zehn Monaten. Natürlich benötigen einige Dinge mehr Zeit als
andere. Was hältst du davon?«
Lily
schwieg einige Augenblicke. Sie hatten Was-wäre-wenn gespielt, oder
etwa nicht? »Nein«, sagte sie stirnrunzelnd. »0 nein. Lehrern müssen Gehälter
gezahlt werden.«
»Und
den besten Lehrern müssen hohe Gehälter gezahlt werden.« Elizabeth
lächelte. »Lily, mein Liebes, ich bin fast schon unanständig reich.«
»Aber
du kannst doch für mich kein Geld ausgeben«, sagte Lily entgeistert. »Ich bin
deine Angestellte.«
»Also
gut«, stimmte Elizabeth zu. »Um deinen Stolz nicht zu verletzen, werde ich in
diesem Punkt nachgeben, Lily. Aber Bedienstete müssen sich, wie du weißt, ihr
Gehalt verdienen. Und wodurch tun sie das? Indem sie ihren Arbeitgebern
gehorchen, ihnen jeden Wunsch erfüllen. Du musst wissen, dass ich mich aus den
verschiedensten Gründen als eine der glücklichsten Frauen der Welt bezeichnen
kann. Aber alles zu haben -fast alles - hat auch seine Nachteile,
besonders, wenn man eine Frau ist. Es gibt da eine gewisse Langeweile, mit der
man zu kämpfen hat. Ich kann dir gar nicht sagen, wann ich das letzte Mal Spaß hatte. Mich deiner Ausbildung anzunehmen wird für mich ein Spaß sein, Lily.
Du darfst mir das nicht abschlagen, erst recht nicht, nachdem du zugegeben
hast, dass es das ist, was du mehr willst als alles andere auf der Welt.«
Es war
kein Spiel gewesen, erkannte Lily plötzlich. Und sie war nicht eingestellt
worden, um zu dienen - zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Elizabeth
hatte das schon lange geplant. Sie hatte vorgehabt, sich selbst und Lily eine
Freude zu machen, indem sie aus ihr eine Dame machte.
Aber
das war unmöglich.
Nun,
das war es nicht!
Es war
großartig und wundervoll. Sie würde Lesen lernen. Sie würde in der Lage sein, Bücher
zu lesen. Sie würde in der Lage sein, einen Raum mit Musik zu erfüllen -
mit ihren eigenen Händen. Sie würde in der Lage sein ... oh, zu viele
verwirrende Möglichkeiten schossen ihr durch den Kopf.
Sie
hatte einen neuen Traum.
»Woran
denkst du?«, fragte Elizabeth.
»Ich
werde in der Lage sein - wenn ich dich verlasse, meine ich«, sagte Lily,
»eine Anstellung als Verkäuferin oder vielleicht sogar als ... als Erzieherin
zu finden.« Das war eine verwirrend schöne Aussicht. Sie würde Wissen erlangen
und in der Lage sein, es an andere weiterzugeben.
»Natürlich«,
sagte Elizabeth. »Oder vielleicht wirst du heiraten, Lily. Ich habe vor, dich
vor Ende der Saison in die Gesellschaft einzuführen. Das gehört zu den
Pflichten einer Gesellschafterin, musst du wissen. Aber du wirst mehr sein als
nur eine Gesellschafterin - du wirst meine Freundin sein und teilhaben an
den gesellschaftlichen Ereignissen, die wir besuchen.«
Lily
ließ sich in ihren Sitz zurückfallen. »0 nein«, sagte sie. »Nein, nein, das ist
unmöglich. Ich bin keine Dame.«
»Völlig
richtig«, stimmte Elizabeth zu. »Und die beau monde trägt bei solchen
Dingen wie Herkunft und Verbindungen die Nase sehr hoch. Sich wie eine Dame zu
verhalten, macht einen bei den allergrößten Pedanten noch längst nicht zu einer
solchen. Aber für die meisten Regeln gibt es Ausnahmen. Du darfst nicht
vergessen, wie berühmt du bist, Lily. Deine Geschichte - wie du in
Nevilles und Laurens Trauung geplatzt bist, seine Bekanntmachung, dass du seine
Gemahlin bist, die er seit langem für tot gehalten hatte, seine Erzählung von
eurer Hochzeit und deinem vermeintlichen Tod -ist immer noch die Sensation
in London. Der Rest der Geschichte -die Entdeckung, dass eure Heirat
letzten Endes ungültig ist, deine Weigerung, ihr durch eine erneute Trauung mit
dem Grafen von Kilbourne Gültigkeit zu verschaffen - wird die
Gesellschaft von den Sitzen reißen. Sie werden darauf versessen sein, dich
kennen zu lernen,
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