01 - Nacht der Verzückung
konnte den monumentalen inneren Krieg begreifen, den sie
jeden Tag und jede Nacht hatte ausfechten müssen, um sich in ihrem tiefsten
Innern an das zu klammern, was sie selbst war, was ihr Identität und Würde gab.
Dieses Etwas, das selbst ein Vergewaltiger - vielleicht sogar ein Mörder -
ihr nicht nehmen konnte.
»Danke«,
sagten sie gleichzeitig nach einer kurzen Stille. Sie lachten beide, ein
freudloses Lachen.
»Du
weißt, Lily«, sprach Elizabeth zu ihr, »dass bei Männern die lächerliche
Haltung vorherrscht, man müsse auch den schlimmsten Katastrophen seines Lebens
aufrecht begegnen. Frauen sind nicht so dumm. Es ist völlig in Ordnung zu
weinen, mein Liebes.«
Lily
weinte. Sie schluchzte, bis sie glaubte, der Schmerz würde sie in Stücke
reißen. Sie weinte, das Gesicht in Elizabeth' Schoß gebettet, während die
ältere Frau ihr mit der Hand über das Haar strich und Belanglosigkeiten
murmelte, die Lily nicht einmal hörte.
Schließlich
richtete Lily sich auf, trocknete sich die Augen, schnäuzte sich und
entschuldigte sich für den nassen Fleck, den sie auf Elizabeth' Rock
hinterlassen hatte. Sie lachte zitternd. »Das nächste Mal wirst du es dir gut
überlegen«, sagte sie, »bevor du mich noch einmal aufforderst zu weinen.«
»Weiß
Neville davon?«
»In
Grundzügen«, sagte Lily. »Nicht die Einzelheiten.«
»Ah«,
sagte Elizabeth. »Gutes Mädchen. Also dann. Lass uns nach vorne schauen und die
Zukunft planen. Lily, mein Liebes, wir werden Spaß haben, Spaß, Spaß, Spaß.«
Sie
lachten erneut.
***
Neville wartete
einen Monat.
Er
versuchte, sein normales Leben wieder aufzunehmen. Nur dass sein normales Leben
nach seiner Rückkehr von den Kriegen auf der Halbinsel die sehr enge
Freundschaft zu seiner Schwester und seiner Cousine sowie sein allmähliches,
unvermeidliches Werben um Lauren beinhaltet hatte.
Die
freundschaftlichen Beziehungen waren angespannt. Er wollte nicht, dass sich
Lauren der trügerischen Hoffnung hingab, er würde erneut um sie werben -
und sie wollte keinesfalls den Eindruck vermitteln, dass sie es erwartete. Gwen
fühlte sich einfach nur unwohl. Wie Lauten beim Abendessen am Tag vor Lilys
Abreise gesagt hatte, nichts würde wieder so sein wie früher.
Dennoch
wurde offensichtlich erwartet, dass er und Lauren heirateten. Die Nachbarn, die
unter fadenscheinigen Vorwänden auf Newbury Abbey vorsprachen und häufiger als
üblich zu Abendessen, Kartenpartien, zwanglosen Tanzvergnügungen und Picknicks
einluden, waren viel zu höflich, um das Thema offen anzusprechen, aber es gab
zahlreiche versteckte Andeutungen und geschickte Versuche, Neuigkeiten zu
erfahren.
Ob sie
in nächster Zeit mit der Rückkehr Baron Galtons, Miss Edgeworth' Großvater, nach
Newbury rechneten, fragte Lady Leigh eines Tages. Solch ein distinguierter
Gentleman!
Hatte
die Gräfin von Kilbourne vor, ihren Wohnsitz wieder ins Witwenhaus zu verlegen,
wollte Miss Amelia Taylor gern wissen. Sie fragte natürlich nur, weil es sich
für sie und ihre Schwester auf keinen Fall schicken würde, eines Tages dem
Herrenhaus einen Besuch abzustatten und nur Seine Lordschaft vorzufinden. Der
bloße Gedanke ließ sie erröten.
Ob
Seine Lordschaft in diesem Jahr noch immer eine Reise zu den Seen plante,
fragte Sir Cuthbert Leigh. Die angeheirateten Verwandten seines Cousins waren
eben erst von dort zurückgekehrt und hatten es als ausgesprochen malerisches
und elegantes Reiseziel beschrieben.
Seiner
Lordschaft müsse Newbury Abbey doch ziemlich groß und einsam vorkommen, wo
seine Schwester und seine Cousine nicht mehr dort lebten, ließ ihn Mrs.
Cannadine wissen.
Hatte
sich Seine Lordschaft auch vollständig von dem unerfreulichen Zwischenfall
erholt, fragte ihn Mrs. Beckford, die Frau des Vikars, mit demselben
flüsternden, mitfühlenden Tonfall, den ihr Mann am Totenbett anschlug. Sie und
der Reverend waren der Hoffnung - die Hoffnung wurde von einem koketten
Blick begleitet, der nicht zu ihr passte -, dass alles bald wieder in
Ordnung gebracht werden würde.
Und es
waren nicht nur die Nachbarn. Auch die Gräfin drängte darauf, zu dem
ursprünglichen Plan zurückzukehren.
»Ich
mochte Lily«, versicherte sie ihm, als sie eine Woche nach Lilys Abschied
gemeinsam frühstückten. »Ohne es zu wollen, mochte ich sie. Sie hat einen
frischen, unbefangenen Charme. Ich hatte mich darauf eingestellt, ihr für den
Rest meines Lebens meine Zuneigung und Unterstützung zu geben. Und ich weiß,
dass du sie liebtest
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