01 - Nicht ohne meine Tochter
Mahtabs Miene hellte sich plötzlich auf. »Oh.«, sagte sie. »Da ist der Mann, der uns geholfen hat.« Ich blickte hoch und sah unseren Fahrer wieder auf unseren Tisch zukommen. Er setzte sich und bestellte sich auch Tee und etwas zu essen. Offensichtlich hatte sein Gewissen nicht zugelassen, dass er abfuhr, ehe wir sicher im Bus saßen. Schließlich gingen wir zu dritt wieder zum Busbahnhof. Dort suchte unser Fahrer einen Türken auf, vielleicht den Stationsvorsteher, und sprach mit ihm über uns. Der Türke begrüßte uns herzlich. Noch einmal sagte unser Fahrer »Tamum, tamum.« Wieder waren seine Augen feucht. Er ließ uns in der Obhut des Türken zurück.
Der Türke führte uns zu einer Bank an einem Holzofen. Ein etwa zehnjähriger Junge brachte uns Tee. Wir warteten. Als es auf vier Uhr zuging, kam der Türke zu uns. »Pässe?«, fragte er. Mein Herz pochte laut. Ich sah ihn mit leeren Augen an und tat, als hätte ich nicht verstanden. »Pässe?«, wiederholte er. Ich machte die Handtasche auf und griff widerstrebend hinein, ich wollte nicht, dass er unsere Pässe kontrollierte. Er schüttelte schnell mit dem Kopf und hielt seine Handfläche hoch, um mich zu bremsen. Als er weiterging und die Papiere der übrigen Fahrgäste kontrollierte, bemühte ich mich, sein Verhalten zu begreifen. Wahrscheinlich war er dafür verantwortlich, dass alle Fahrgäste Papiere hatten. Er wusste, dass wir Pässe hatten, und mehr wollte er nicht wissen. Was mochte unser Fahrer ihm erzählt haben? Wir befanden uns immer noch in einer Welt der Intrige, der Grenzen und der Ausweispapiere, einer Welt voll geflüsterter Erklärungen und verständnisvollem Kopfnicken.
Eine amtliche Stimme machte eine Ansage, und ich verstand das Wort Ankara, also standen Mahtab und ich auf und folgten den anderen drängelnden Fahrgästen zu einem modernen Überlandbus, der ganz wie ein Greyhound aussah. Wir fanden zwei Plätze hinten links. Mehrere Passagiere waren schon an Bord, und bald kletterten die anderen herein und besetzten fast alle Plätze. Der Motor lief im Leerlauf, und der Bus war warm. Eine vierundzwanzig Stunden dauernde Fahrt nach Ankara war alles, was wir noch überstehen mussten, dann waren wir in Sicherheit. Innerhalb weniger Minuten hatten wir die Stadt verlassen und rasten über kurvige, dick vereiste Gebirgsstraßen. Der Fahrer entging mehrmals knapp einem Unglück, wenn er schwungvoll um die Kurven schlidderte, die keine Leitplanken besaßen. Mein Gott, dachte ich, sind wir so weit gekommen, nur um in irgendeine Schlucht zu stürzen? Die Erschöpfung holte mich ein. Mein ganzer Körper klopfte noch von den Anstrengungen der Grenzüberquerung, aber die Schmerzen konnten den Schlaf nicht mehr aufhalten. Ich dämmerte vor mich hin, immer noch wachsam, aber warm und voller Träume für den kommenden Tag.
Ich erwachte mit einem Ruck mitten in der schwarzen Nacht. Der Fahrer war voll auf die Bremse getreten, und der Bus rutschte gefährlich, bis er zum Halten kam. Draußen tobte ein Schneesturm. Andere Busse standen vor uns. Ich konnte sehen, dass weiter vorne, in einer Kurve, die Straße durch Schneeverwehungen versperrt war. Ein oder zwei Busse saßen im Schnee fest und blockierten die Straße. In der Nähe lag ein Gebäude, ein Hotel oder Restaurant. In der Erkenntnis, dass wir hier eine Weile aufgehalten würden, waren einige der Fahrgäste ausgestiegen und machten sich auf den Weg in das warme Gebäude. Es war fast Mitternacht. Mahtab schlief fest an meiner Seite, und ich sah das winterliche Schauspiel draußen nur durch einen Dunst der Benommenheit. Ich schlief wieder ein. Ich kam ab und zu zu mir, während die Stunden vergingen. Ich wachte zitternd vor Kälte auf, da der Bus nicht mehr geheizt war, aber ich war zu müde, um mich zu rühren. Schnell schlief ich wieder ein. Der Morgen dämmerte schon fast herauf, als ich vom Geräusch eines Schneepflugs geweckt wurde, der die Straße vor uns räumte. Mahtab zitterte an meiner Seite, aber sie schlief noch.
Schließlich, nach einem Aufenthalt von sechs Stunden, fuhren wir durch die schneebedeckte Landschaft weiter. Mahtab rührte sich neben mir, rieb sich die Augen und starrte einen Augenblick aus dem Fenster, ehe sie sich daran erinnerte, wo wir waren. Sie stellte die uralte Frage reisender Kinder: »Mommy, wann sind wir da?« Ich erzählte ihr von dem langen Aufenthalt. »Wir kommen viel später an.«, sagte ich. Der Bus holperte stundenlang in
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