01 - Schatten der Könige
zunehmend an Stärke gewinnen, sind wir gezwungen, uns weit mehr auf die Niedere Macht zu stützen, als wir angenommen haben.«
»Und das Kristallauge vergrößert diese Macht und steigert ihre Wirkung«, murmelte Suviel. »Genau.« Bardow ergriff ihre Hand. »Ich bedauere, dass ich dir diese schwere Bürde übertragen muss, aber ich kann niemanden anderen damit betrauen. Guldamar und Terzis verfügen zwar über größere magische Kraft, aber keiner der beiden kann sich mit deiner Leichtigkeit unter das einfache Volk mischen.«
»In Prekine gibt es kein einfaches Volk«, erwiderte sie, während in ihrer Erinnerung das Bild des weißäugigen Akolythen am Wujads Becken auftauchte.
Bardow seufzte. »Gefahren und Tücken lauern überall dort, wo einst die Harmonie ihr Zepter schwang. Waren Besh-Darok und die Macht der Wurzel einst Herz und Seele des Imperiums, bildete Trevada seinen Verstand, seinen ruhenden Pol, und war hoch geachtet. Die Akolythen wussten sehr genau, was sie taten, als sie unsere Türme und Hallen für ihre Zwecke übernahmen. Sie wissen, wie man alles korrumpiert, auch die Symbole.«
»Sie können nicht alles in ihren Schmutz ziehen«, widersprach Suviel. »Denn sie können nicht alles vollbringen.«
Der Erzmagier lächelte wehmütig und richtete sich dann in seinem Stuhl auf, als wollte er damit die Last der Erinnerungen und seine Schwermut abschütteln. »Jetzt geh, ruh dich aus und bereite dich auf den morgigen Tag vor. Ganz recht, ich verlange nicht, dass du schon heute aufbrichst. Ich wünschte, ich könnte dir mehr Zeit geben, doch die Zeit arbeitet gegen uns.«
Suviel stand auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich werde nicht versagen.« Bardow sah zu ihr hoch. »Das hoffe ich, Suviel. Das hoffe ich um unser aller willen.« In einem anderen Bereich des Tempels trat ein Mann in einem braunen Umhang vor eine Tür am Ende des Korridors. Er wollte gerade anklopfen, als eine Stimme von innen rief: »Tritt ein!« Der Mann zuckte mit den Schultern, befolgte den Befehl, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dann dagegen, als wäre er völlig erschöpft. Der Raum war klein und mit zwei niedrigen Pritschen, einer Truhe aus grob zusammen gezimmerten Brettern und einem schlichten, viereckigen Tisch eingerichtet. An dem Tisch saß ein grauhaariger, alter Mann. Er umklammerte mit seinen runzligen Händen eine kleine Schüssel mit Wasser, in dessen Oberfläche sich wie kleine Leuchtfeuer das Licht der Kerzen an den Wänden spiegelte. Der Ältere drehte sich auf seinem Hocker um und sah den Jüngeren stirnrunzelnd an. »Und?« Coireg Mazaret lachte zitternd. »Der Junge wird zu einem der Haine der Jäger Kinder geschickt, und ich soll ihn begleiten.« »Ich gehe mit dir?« »Daraufhabe ich bestanden.«
Die Miene des Alten hellte sich auf. »Ausgezeichnet. Die Ereignisse entwickeln sich zu unseren Gunsten. Unser Gebieter Ystregul wird sehr erfreut sein.«
Bei der Erwähnung dieses Namens wurde Coireg übel, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um den Schwindel zu unterdrücken. Ystregul, der Schwarze Priester des Feuer Baumes. Vor seinem inneren Auge zeichnete sich ein Gesicht ab, das Antlitz eines Mannes mit ausgeprägten Wangenknochen, langem schwarzen Haar, das zu zahlreichen Zöpfen geflochten war und Augen, deren Blicke scharf wie Dolche waren. Dann erinnerte sich Coireg daran, wie vor all den Monaten seine eigenen Arme und seine Brust mit Blut überströmt gewesen waren, und er erschauerte. Es war das Blut seines Vaters.
Der Mann schob mit dem Fuß den anderen Schemel vom Tisch zurück. »Setz dich!«, befahl er. Dankbar gehorchte Coireg und ließ sich auf den Hocker fallen. »Seftal, es tut mir Leid, ich …« Seftal hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. »Das Wirken des Brunn-Quell bringt Bürden für all seine Diener, und es braucht Zeit, die Stärke zu gewinnen, um sie zu ertragen. Auch du wirst bald stark sein.«
Coireg hätte am liebsten geweint. Die Erinnerung daran, wie er zu sich gekommen war und feststellen musste, dass er seinen Vater ermordet hatte, umschlang wie ein Dornenhalsband seinen Hals und würgte ihn in jeder wachen Stunde. Seftal, sein Freund und Schmugglerkollege, hatte ihn von Casall weggeschafft, ihm in einem verlassenen Bauernhaus seine Gefolgschaft zum Brunn-Quell gestanden und ihm eine Chance auf Wiedergutmachung versprochen. Das anschließende Treffen mit Ystregul hatte Coireg jedoch mit Entsetzen erfüllt. Der Schwarze Priester hatte ihm
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