Arto Ratamo 7: Der Finne
1
Helsinki, Montag, 31. Juli
Der gebeugte, blinde Mann öffnete seine Wohnungstür, hielt inne, als ihm der fremde Geruch in die Nase stieg, und begriff, dass der Tag gekommen war, auf den er gewartet hatte, voller Angst, seit über sechzig Jahren. Otto Forsman wusste, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war, es roch nach Zigaretten und Rasierwasser, nur ganz leicht, wie ein Hauch, aber er spürte es trotzdem.
Forsman ging durch den Flur ins Wohnzimmer, zählte dabei seine Schritte und blieb beim zwölften stehen. Dann drehte er sich um und setzte sich in den Sessel. Vor Angst atmete der alte Mann schneller. Waren sie noch hier, würde er jetzt sterben? Das durfte nicht geschehen, auf gar keinen Fall. Nur er wusste, wo das Dokument und die Beweise lagen, jene Informationen also, deren Schutz er sein Leben gewidmet hatte, die düsteren Geheimnisse, die er sein ganzes Mannesalter im Kopf mit sich herumgetragen hatte. Unter dem Siegel des Geheimdokuments waren Berichte über die finstersten Kapitel der Geschichte verwahrt, er musste es unbedingt seinem Nachfolger übergeben. Unter allen Umständen.
»Nun ziehen Sie wenigstens die Schuhe aus«, sagte Eila Lähde nachsichtig, »ich habe heute früh hier sauber gemacht. Sie sind es doch, der ständig herummeckert, wenn etwas unordentlich ist. Alles muss immer auf den Millimeter genau an seinem Platz sein …« Die Schwester vom Pflegedienst hatte hinter dem blinden Mann das Wohnzimmer betreten und legte nun ihre Handtasche auf den Esstisch.
»Komm her. Setz dich aufs Sofa und sei einen Augenblick still. Ganz still«, unterbrach Otto Forsman sie schroff, dabei hielt er den Kragen seines Flanellhemdes fest wie das Zaumzeug eines Pferdes.
Eila Lähde bemerkte an seiner Stimme, dass irgendetwas nicht stimmte, und tat, was er verlangte, damit er nur ja nicht vollends die Fassung verlor. Von all ihren Kunden geriet Forsman am leichtesten in Wut.
Hellwach registrierte der alte Mann die Umgebung. Er hörte das pfeifende Geräusch der Luft, die durch das undichte Küchenfenster hereinströmte, und spürte auf der Haut, dass sich die Raumtemperatur im Laufe des Vormittags erhöht hatte. Und er roch nun noch deutlicher die Duftspuren, die jemand in seiner Wohnung hinterlassen hatte: Zigarettenrauch, der sich in der Kleidung festsetzte, und ein aggressives Rasierwasser. Hatten die Russen ihn gefunden? Forsman war dankbar dafür, so hoch empfindliche Sinne zu besitzen. Im vorletzten Winter hatte ihm die Zuckerkrankheit das Sehvermögen genommen, doch sein Tast-, Gehör- und Geruchssinn hatten sich danach so entwickelt, dass es Augenblicke gab, in denen er sich nicht einmal mehr danach sehnte, wieder sehen zu können.
Forsman bereute, und zwar so sehr, dass es in den Schläfen schmerzte. Er hatte zu lange gewartet. Über sechzig Jahre hatte er sich selbst und fast vierzig Jahre lang auch seinen Sohn auf diese Aufgabe vorbereitet, hatte er nun versagt? Oder würde er es noch schaffen, seinen Plan in die Tat umzusetzen? Warum hatte er die Anzeichen der Gefahr nicht ernst genommen? Die offenkundig schon einmal geöffneten Briefe, das Geräusch eisenbeschlagener Schuhe, die ihm in der Stadt anscheinend folgten, die Ahnung, beobachtet zu werden … Und wenn er nun sein Versteck nicht mehr rechtzeitig erreichte?
Die Schwester setzte sich aufs Sofa und rückte ihren üppigenKörper bequem zurecht. »Möchte Herr Forsman nun vielleicht erzählen, auf was wir hier eigentlich warten?«, fragte sie so freundlich wie möglich.
»Ich muss nach Kruununhaka. Jetzt sofort. Du bringst mich hin.«
»Also ich habe jetzt garantiert keine Zeit, nach Kruununhaka zu fahren«, entgegnete Eila Lähde und schniefte. »Ich muss zu Hause sein, bevor …«
»Hör zu!«, fuhr Forsman sie an. »Dies ist ein Notfall. Es ist etwas … passiert. Ich verspreche dir auch, dass du für deine Mühe entschädigt wirst. Wir lassen nächste Woche den Gang zur Bank und zum Einkaufen ausfallen, du kannst in der Zeit frei nehmen. Und du bekommst auch noch ein bisschen Geld, als Lohn für deine Bemühungen, sagen wir einhundert Euro.«
Eila Lähde betrachtete ihren schwierigsten Kunden mit gerunzelter Stirn. Otto Forsmans schmales, faltiges Gesicht unter dem grauen Haarschopf wirkte, sofern das überhaupt möglich war, noch blasser als sonst. Wie stets, wenn er nachdachte, strich er über seinen Spitzbart. Was war plötzlich in den Alten gefahren, vor einer Viertelstunde war er noch genau wie immer gewesen,
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