01 - Winnetou I
ein Milderungsgrund. Er wußte nicht mehr, was er tat.“
„Laßt Euch nicht auslachen! Ja, da drüben bei Euch im alten Land, da sitzen die Herren Juristen zu Gericht und rechnen einem jeden, dem es beliebt, in der Betrunkenheit ein Verbrechen zu begehen, den Schnaps als Milderungsgrund an. Verschärfen sollten sie die Strafe, Sir, verschärfen! Wer sich so sinnlos betrinkt, daß er wie ein wildes Tier über seinen Nebenmenschen herfällt, der sollte doch doppelt bestraft werden. Ich habe nicht das geringste Mitleid mit diesem Rattler. Denkt doch daran, wie er Euch behandelt hat!“
„Ich denke daran, aber ich bin ein Christ und kein Indianer. Ich werde alles versuchen, einen kurzen Tod für ihn zu erreichen.“
„Das laßt bleiben, Sir! Erstens verdient er es nicht, und zweitens wird alle Eure Mühe vergeblich sein. Klekih-petra ist der Lehrer, der geistige Vater des Stammes gewesen; sein Tod ist ein unersetzlicher Verlust für die Apachen, und der Mord geschah ohne alle Veranlassung. Aus diesen Gründen ist es gewiß unmöglich, die Roten zur Nachsicht zu bewegen.“
„Ich versuche es doch!“
„Aber vergeblich!“
„In diesem Fall schieße ich Rattler eine Kugel in das Herz.“
„Um seine Qualen zu beenden? Das laßt um Himmels willen sein! Ihr würdet Euch dadurch den ganzen Stamm zum Feind machen. Es ist sein gutes Recht, die Art der Strafe zu bestimmen, und wenn Ihr ihn um dieses bringt, so ist es mit der jungen Freundschaft, welche wir geschlossen haben, sofort wieder aus. Also geht Ihr mit?“
„Ja.“
„Schön; aber macht ja keine Dummheiten! Ich will Dick und Will rufen.“
Er verschwand im Eingang zu seiner Wohnung und kehrte bald mit den beiden Genannten zurück. Wir stiegen die Etagen hinab. Nscho-tschi war uns vorangegangen und nicht mehr zu sehen. Als wir aus dem Seitental in das Haupttal des Rio Pecos kamen, sahen wir die Kiowas nicht mehr. Sie waren mit ihrem verwundeten Häuptling fortgeritten, und Intschu tschuna war so klug und umsichtig gewesen, ihnen heimlich Späher nachzusenden, da es ihnen einfallen konnte, unbemerkt zurückzukehren, um sich zu rächen.
Ich habe schon gesagt, daß unser Ochsenwagen auf dem Platz stand. Als wir kamen, hatten die Apachen einen weiten Kreis um denselben gebildet. In der Mitte desselben standen die beiden Häuptlinge mit einigen Kriegern. Nscho-tschi war bei ihnen und sprach mit Winnetou. Obgleich sie die Tochter des Häuptlings war, durfte sie sich nicht in die Angelegenheiten der Männer mischen; wenn sie sich trotzdem jetzt nicht bei den Frauen befand, so war es gewiß nichts Unwichtiges, was sie ihrem Bruder zu sagen hatte. Als sie uns kommen sah, machte sie ihn, wie ich bemerkte, auf uns aufmerksam und zog sich dann zu den Squaws zurück. Sie hatte also wohl von uns mit ihm gesprochen. Winnetou durchbrach den Kreis seiner Krieger, kam uns entgegen und sagte in ernstem Ton:
„Warum sind meine weißen Brüder nicht oben im Pueblo geblieben? Gefallen ihnen die Wohnungen nicht, in welche sie geführt worden sind?“
„Sie gefallen uns“, antwortete ich, „und wir danken unserem roten Bruder für die Fürsorge, die er für uns getroffen hat. Wir kehren zurück, weil wir hörten, daß Rattler jetzt sterben soll. Ist dies so?“
„Ja.“
„Ich sehe ihn doch nicht!“
„Er liegt im Wagen bei der Leiche des Ermordeten.“
„Welche Todesart soll er erleiden?“
„Den Martertod.“
„Ist dies unvermeidlich beschlossen worden?“
„Ja.“
„Einen solchen Tod kann mein Auge nicht ersehen!“
„Deshalb hat Intschu tschuna, mein Vater, euch nach dem Pueblo gebracht. Warum seid ihr zurückgekehrt? Warum willst du etwas ansehen, was du nicht ersehen kannst?“
„Ich hoffe, daß ich seinem Tod beiwohnen kann, ohne daß ich mich mit Grauen abzuwenden brauche. Meine Religion gebietet mir, für Rattler zu bitten.“
„Deine Religion? War sie nicht auch die seinige?“
„Ja.“
„Hat er nach den Geboten derselben gehandelt?“
„Leider nein.“
„So hast du nicht nötig, ihre Gebote seinetwegen zu erfüllen. Deine und seine Religion verbietet den Mord; er hat trotzdem gemordet, folglich sind die Lehren dieser Religion nicht auf ihn anzuwenden.“
„Nach dem, was er getan hat, kann ich mich nicht richten. Ich muß meine Pflicht erfüllen, ohne nach den Gesinnungen und Taten anderer Menschen zu fragen. Ich bitte dich, eure Strenge zu mildern und diesen Mann eines schnellen Todes sterben zu lassen!“
„Was beschlossen
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