01 - Winnetou I
indianischer Medizinmann wird der Freund eines Christen sein; dieser hier hat niemals ein Wort an mich gerichtet, und ich habe ihn natürlich mit gleicher Münze bezahlt; er war Luft für mich. Er fürchtet meinen Einfluß auf die Häuptlinge, welcher sich bald auf den ganzen Stamm erstrecken kann, und hat jetzt die passende Gelegenheit ergriffen, dem zuvorzukommen.“
„Soll ich hingehen und ihm einige Ohrfeigen in das rote Gesicht pflanzen, Sir?“
„Macht keine Dummheit, Sam! Die Sache ist ja der Aufregung gar nicht wert.“
Intschu tschuna, Winnetou und Nscho-tschi hatten, als sie die Weissagung des Medizinmannes hörten, einander betroffen angeschaut. Ob sie an die Wahrheit der Prophezeiung glaubten oder nicht, das blieb sich gleich; aber sie kannten die Wirkung derselben auf ihre Untergebenen. Es sollten dreißig Mann mit uns reiten; wenn diese glaubten, daß meine Nähe Verderben bringe, so waren Unzuträglichkeiten aller Art gar nicht zu vermeiden. Dem konnte, da der Ausspruch des Medizinmannes nicht abzuändern war, nur dadurch vorgebeugt werden, daß die Anführer gegen mich dieselben bleiben wie vorher und dies ihren Leuten sogleich zeigten. Darum ergriffen sie beide meine Hände, und Intschu tschuna sagte so laut, daß alle es hörten:
„Meine roten Brüder und Schwestern mögen meine Worte vernehmen! Unser Medizinbruder besitzt den Blick, in die Geheimnisse der Zukunft zu dringen, und sehr oft ist das, was er vorherverkündet hat, eingetroffen; aber wir haben auch erfahren, daß er sich irren kann. Er hat in der Zeit großer Dürre den Regen herbeigezogen, der aber nicht gekommen ist. Vor dem letzten Zug gegen die Komanchen verkündete er uns, daß wir große Beute machen würden, doch der Sieg, den wir errangen, hat uns nur einige alte Pferde und drei schlechte Gewehre eingebracht. Als er uns im vorletzten Herbst sagte, daß wir nach dem Wasser des Tugah gehen müßten, wenn wir viel Büffel erlegen wollten, haben wir nach seinen Worten getan, jedoch wir machten so wenig Fleisch, daß dann im Winter beinahe eine Hungersnot ausbrach. Ich könnte euch noch mehrere solche Beispiele anführen, welche beweisen, daß sein Auge zuweilen dunkel ist. Darum ist es sehr wohl möglich, daß er sich auch jetzt mit unserem Bruder Old Shatterhand irrt. Ich nehme seine Worte so, als ob sie nicht gesprochen worden seien, und fordere meine Brüder und Schwestern auf, dies auch zu tun. Wir wollen abwarten, ob sie zutreffen.“
Da trat mein kleiner Sam Hawkens vor und rief:
„Nein, wir warten nicht; wir brauchen nicht zu warten, denn es gibt ein Mittel, sofort zu erfahren, ob der Medizinmann die Wahrheit verkündet hat.“
„Welches Mittel meint mein weißer Bruder?“ erkundigte sich der Häuptling.
„Ich will es euch sagen. Nicht nur die Roten, sondern auch die Weißen haben ihre Medizinmänner, welche es verstehen, die Zukunft zu erforschen, und ich Sam Hawkens, bin der berühmteste unter ihnen.“
„Uff, uff!“ riefen die Apachen erstaunt.
„Ja, da wundert ihr euch! Ihr habt mich bisher für einen gewöhnlichen Westmann gehalten, weil ihr mich noch nicht kennt; aber ich kann mehr als Kirschen essen, und ihr sollt mich kennenlernen, hihihihi! Einige von meinen roten Kriegern mögen ihre Tomahawks nehmen und ein enges, aber tiefes Loch in die Erde graben.“
„Will mein weißer Bruder in das Innere der Erde blicken?“ fragte Intschu tschuna.
„Ja, denn die Zukunft liegt im Schoß der Erde verborgen, zuweilen auch in den Sternen; da ich jedoch jetzt am hellen Tag keine Sterne sehe, die ich befragen könnte, muß ich mich an die Erde wenden.“
Einige Indianer folgten seiner Aufforderung, indem sie mit ihren Kriegsbeilen ein Loch machten.
„Treibt keinen Humbug, Sam“, flüsterte ich ihm zu. „Wenn die Roten merken, daß Ihr Unsinn macht, so verschlimmert Ihr die Sache, anstatt daß Ihr sie verbessert!“
„Humbug? Unsinn? Was ist es denn, was der Medizinmann treibt? Doch auch Unsinn! Was der kann und darf, das kann und darf ich auch, wenn ich mich nicht irre, verehrter Sir. Ich weiß, was ich tue. Wenn nichts geschieht, so zeigen sich die Leute, welche wir mitnehmen, obstinat. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.“
„Davon bin ich allerdings auch überzeugt; aber ich bitte Euch, ja nichts Lächerliches vorzunehmen!“
„O es ist ernst, sehr ernst. Habt keine Sorge!“
Es war mir trotz dieser Aufforderung nicht ganz wohl zu Mute. Ich kannte ihn nur zu gut. Er war ein Spaßvogel. Darum
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