01 - Winnetou I
Ihr da vorbringt, ist ja alles gut; aber man darf keinen Fehler begehen aus dem Grunde, weil ein anderer ein Verbrechen begangen hat. Ich sage Euch, daß die Obrigkeit sich vor allen Dingen reinzuhalten hat; aus diesem Grund haben wir Westmänner, die wir gegebenenfalls die Obrigkeit spielen müssen, alle Veranlassung, unseren Ruf unbefleckt zu erhalten. Doch auch davon abgesehen, will ich Euch fragen, was Rattler wohl dann täte, wenn er von uns fortgejagt würde?“
„Das ist seine Sache!“
„Und die unserige ebenso! Wir befänden uns in jedem Augenblick in Gefahr, da er höchstwahrscheinlich versuchen würde, sich an uns zu rächen. Es ist besser, ihn bei uns zu behalten, wo wir ihn beaufsichtigen können, als daß wir ihn fortjagen und er uns fortgesetzt umschleicht und jedem, dem er will, eine Kugel in Kopf jagen kann. Ich denke, daß Ihr nun auch unserer Meinung seid.“
Er sah mich dabei mit einem Blick an, den ich recht wohl verstand, denn er blinzelte dann in bezeichnender Weise zu Rattlers Genossen hinüber. Wenn wir gegen diesen vorgingen, so stand zu befürchten, daß sie gemeinschaftliche Sache mit ihm machen würden. Das sagte ich mir auch, denn es war ihnen nicht zu trauen. Darum antwortete ich:
„Ja, nachdem Ihr mir die Sache in dieser Weise klargemacht habt, sehe ich wohl ein, daß wir sie laufenlassen müssen, wie sie läuft. Nur machen mir die Apachen Sorge, denn es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß sie kommen werden, um sich zu rächen.“
„Sie kommen, und zwar um so sicherer, als sie nicht ein Wort der Drohung ausgesprochen haben. Sie haben nicht nur außerordentlich stolz, sondern auch sehr klug gehandelt. Hätten sie augenblicklich Vergeltung geübt, so wäre davon, selbst wenn wir es geduldet hätten, was keinesfalls so sicher war, doch nur Rattler betroffen worden. Sie hatten es aber auf uns alle abgesehen, weil er zu uns gehörte und weil sie uns infolge unserer Vermessungen als Feinde betrachten, die ihnen ihr Land und Eigentum rauben wollen. Darum haben sie sich in so außerordentlicher Weise beherrscht und sind davongeritten, ohne einen Finger gegen uns zu erheben. Desto sicherer aber werden sie zurückkehren, um uns alle in ihre Hände zu bekommen. Glückt ihnen das, so können wir uns auf einen bösen Tod gefaßt machen, denn das Ansehen, in welchem dieser Klekih-petra bei ihnen gestanden hat, erfordert eine doppelt und dreifach schwere Rache.“
„Und das alles um eines Trunkenboldes willen! Sie werden jedenfalls in größerer Anzahl kommen.“
„Natürlich! Es hängt da alles von der Frage ab, wann sie kommen werden. Wir hätten ja Zeit, zu fliehen, müßten aber alles im Stich und die beinahe fertige Arbeit unvollendet lassen.“
„Das umgehen wir, wenn es nur halbwegs möglich ist.“
„Wann glaubt Ihr, fertig werden zu können, wenn Ihr Euch recht sputet?“
„In fünf Tagen.“
„Hm! Soviel ich weiß, gibt es hier in der Nähe kein Apachenlager. Ich würde die nächsten Mescaleros wenigstens drei starke Tagesritte von hier suchen. Wenn ich mich hierin nicht irre, so haben Intschu tschuna und Winnetou, weil sie die Leiche transportieren, vier Tage zu reiten, ehe sie Succours bekommen können; drei Tage dann nach hier zurück, das ergibt sieben Tage, und da Ihr glaubt, in fünf Tagen fertig zu werden, so meine ich, daß wir es wagen dürfen, mit der Vermessung fortzufahren.“
„Und wenn Eure Berechnung nicht richtig ist? Es ist ja möglich, daß die beiden Apachen die Leiche einstweilen an einen sicheren Ort geschafft haben und dann zurückkommen, um aus dem Hinterhalt auf uns zu schießen. Ebenso ist es möglich, daß sie viel eher auf einen Trupp der Ihrigen treffen; ja, es läßt sich sogar annehmen, daß sie Freunde in der Nähe haben, denn es sollte mich wundern, wenn zwei Indianer, noch dazu Häuptlinge, sich ohne alle Begleitung so weit von ihrem Wohnsitz entfernten. Und da die Zeit der Büffeljagd gekommen ist, so wäre auch die Möglichkeit vorhanden, daß Intschu tschuna und Winnetou zu einem Jagdtrupp gehören, der sich in der Nähe befindet und von welchem sie sich aus irgendeinem Grund auf nur kurze Zeit entfernt haben. Das alles ist zu bedenken und zu beherzigen, wenn wir vor- und umsichtig sein wollen.“
Sam Hawkens kniff das eine seiner beiden kleinen Äuglein zu, zog eine verwunderte Grimasse und rief aus:
„Good lack, was Ihr doch klug und weise seid! Wahrhaftig, heutzutage sind die Küchlein zehnmal gescheiter als die alte Henne,
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