010 - Die Bestie mit den Bluthänden
weiter. Mitkommen werde
ich voraussichtlich nicht, das ist schade, ich hätte Sie gern wieder einmal
persönlich gesehen. Doch meine Arbeit in New York lässt es augenblicklich nicht
zu, dass ich mich freimachen kann. Ich inszeniere ein modernes Schauspiel in einem
Broadway-Theater. Wir stecken mitten in der Arbeit. Das Stück ist recht
vielversprechend. Vielleicht planen Sie demnächst wieder eine Vortragsreise
durch die Staaten, und dann könnten Sie …?«
»Das Stück ansehen, meinen Sie? Warum nicht! Ich werde es mir notieren.«
Die beiden Männer wechselten noch ein paar belanglose Worte, dann hängte
der amerikanische Regisseur ein.
Eine Viertelstunde später befand sich Dr. Sandos auf dem Weg durch das
angebaute Erholungsheim. Schwester Rita, eine junge Deutsche aus Bremen, blond,
schlank, mit einem etwas herben und doch hübschen Gesicht, begleitete ihn
dabei. Außer ihr gab es eine zweite Schwester im Haus des Psychologen. Sie
wohnte, wie alle anderen weiblichen Angestellten, in dem Gebäudetrakt, der
speziell für die Unterkunft des Personals errichtet worden war. Dort lebte auch
die Köchin. Die unterste Etage diente als Wirtschaftszentrum, in der Paulette,
eine dicke, gutmütige Person, hantierte und regierte. Darüber befanden sich die
hervorragend und großzügig eingerichteten Zimmer für die beiden Schwestern und
Nicole.
Dr. Sandos lebte im genau gegenüberliegenden Trakt, der den Unterkünften
für die Patienten angebaut war. Der Gebäudekomplex war in Form eines großen,
offenen Us errichtet. Die Mitte bildete eine ausgedehnte Rasenfläche, auf der
die bunten Liegen mit den Sonnenschirmen standen.
Der kleine Bach, der weiter vorn unter der alten steinernen Brücke
sprudelte, rauschte an dem ausgedehnten, abseits gelegenen Grundstück des
Arztes vorbei.
Dr. Sandos pflegte das Gespräch mit seinen Patienten. Mit dreien konnte er
an diesem Morgen nicht plaudern. Ihnen wurden auch keine sedativen Medikamente
verabreicht und Fragen gestellt. Sie befanden sich in den schattigen Zimmern
und lagen in einem erholsamen, tiefenhypnotischen Schlaf. Dr. Sandos arbeitete
sehr viel mit Tiefenhypnose. Die meisten Menschen brachten es heute nicht mehr
fertig, richtig auszuspannen. Sie waren aufs Äußerste erschöpft, ihre Nerven
überreizt. Den meisten fehlte nichts anderes als Ruhe und nochmals Ruhe. Dieses
abgelegene kleine Fleckchen Erde schenkte ihnen ein Ruheparadies, das ihnen
keine der hektischen Großstädte bieten konnte.
Dr. Sandos brauchte für die im Wachzustand befindlichen acht Patienten
insgesamt zwei Stunden. Genau zur Mittagszeit kam er wieder in sein Büro. Er
sah abgespannter aus, noch müder, und dennoch brach er auch jetzt noch nicht
ab. Er gab Schwester Rita Hinweise für die einzelnen Patienten und bestimmte
die neuen Medikamente, die ab dem kommenden Tag verabreicht werden sollten.
»Die Spaziergänge außerhalb des Hauses sind für alle Anwesenden heute
gestrichen«, schloss Dr. Sandos mit müder Stimme. »Sagen Sie, dass ich
beabsichtige, im Laufe des Tages alle in Tiefschlaf zu versetzen. Für die
nächsten achtzehn bis zwanzig Stunden brauchen alle viel Ruhe. Damit verhindere
ich gleichzeitig, dass sie die Nachrichten mitbekommen. Ich möchte niemanden
unnötig erregen. Sie brauchen nicht zu ahnen, was sich in ihrer unmittelbaren
Umgebung Schreckliches ereignet hat.«
Er griff mit zitternden Händen nach dem Zigarettenspender. »Wir beginnen
mit Madame Feydeau. Sie ist die labilste. Ich fürchte, ich habe bei ihr den
Tiefschlaf zu früh abgesetzt. Sie kam mir heute erregter und gereizter als die
vorangegangenen Tage vor. Ist Ihnen etwas Besonderes an ihr aufgefallen,
Schwester?«
Er sah die junge Deutsche aufmerksam an. Schwester Rita schüttelte den
Kopf. »Nicht, dass ich wüsste, Doktor.« Sie sprach ein fast akzentfreies
Französisch. »Nach den ersten drei Tagen Tiefschlaf war sie merklich ruhiger geworden
und fand auch einmal die Muße, in einem Buch zu blättern. Ihr Erlebnisdrang war
merklich gedämpft. Aber das bestätigt nur das, was Sie selbst wissen. Etwas
Außergewöhnliches an ihrem Verhalten ist mir jedenfalls nicht aufgefallen, wie
bereits gesagt.«
Dr. Sandos nickte mechanisch, während er die halbgerauchte Zigarette im
Ascher ausdrückte. »In einer halben Stunde gibt es Mittagessen«, sagte er
unvermittelt, während er sich erhob. »Ich werde mich noch so lange in meinem
Labor aufhalten. Wenn irgendetwas sein sollte, Sie wissen, wo ich bin.«
Damit wandte
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