010 - Die Bestie mit den Bluthänden
riss an der Klinke. Aber die Tür war von außen verschlossen
worden.
Doch durch wen? Hatte sich Armand dieses schaurige Spiel ausgedacht? Oder
steckte Jean-Claude dahinter? Das musste es sein!
Der Gedanke an ihren Mann trieb ihre Angst und Panik einem Höhepunkt zu.
Wie von Sinnen trommelte sie gegen die Tür. »Aufmachen, aufmachen! Lasst mich
raus hier! Armand, Doktor Sandos, Nicole, Schwester Rita!« Sie rief alle Namen,
die ihr gerade in den Sinn kamen.
Vor ihren Augen flimmerte die Luft, ein Schwindelgefühl ergriff sie.
Niemand kam, und niemand meldete sich.
Mireille drehte sich um.
Erst jetzt kam sie richtig dazu, sich die Umgebung des Zimmers anzusehen,
in das sie wie in eine Falle gelaufen war.
Als würde sie eine unsichtbare Hand in den Rücken stoßen, so löste sie sich
von der Tür und taumelte nach vorn.
Der Raum war so groß wie ein Saal für Festlichkeiten.
Und er sah auch aus, als wäre er geschmückt. Lange Streifen hingen von der
Decke herab, die den Hintergrund des Zimmers fast völlig einnahmen.
Luftschlangen? Dazu waren sie zu dünn.
Mireille Feydeau kam näher, während sie schnell und abgehackt atmete und
leise schluchzte.
Sie hielt den Kerzenständer in die Höhe und berührte damit eines der
dicken, schimmernden Seile.
Und da passierte es!
Das ganze lange Gewürm, das herabhing, geriet in Bewegung und wand sich auf
sie herab.
Entsetzt schrie Mireille Feydeau auf, als die langen, kalten Körper sie
berührten.
Schlangen?!
Die glitschigen Leiber schlugen in ihr Gesicht, deutlich sah sie die
schuppige Oberfläche der hin- und herschlagenden Körper und begriff nicht, dass
sie selbst es war, die diese heftige Bewegung durch ihre Reaktion erzeugte.
Die Saat, die Armand Dupont ausgelegt hatte, ging auf!
Es waren keine echten Schlangen, es waren hunderte von weißen, beweglichen
Plastikleibern, Attrappen, die jedoch zu echt wirkten, um in der Halbdämmerung
erkannt zu werden.
Aber Armand Dupont hatte die Rechnung mit der seelischen Verfassung von
Mireille Feydeau gemacht.
Die Französin duckte sich, gab spitze Schreie von sich und jagte wie unter
Peitschenhieben unter den tiefhängenden Leibern hindurch, die sich hinter ihr
durch eine geschickte Aufhängung langsam weiter herabsenkten.
Die Luft war mit ihren Schreien und dem Rascheln erfüllt, das die weichen,
elastischen Leiber verursachten.
Es war eine gruselige und gespenstische Situation, ganz dazu angetan, das
bereits ins Wanken geratene seelische Gleichgewicht der psychisch gestörten
Frau weiter zu erschüttern. Mireille Feydeau hatte das Gefühl, als käme die
ganze Decke auf sie herab.
Hunderte von glitschigen Körpern würden sie unter sich begraben.
Sie floh – und wusste nicht wohin.
Zum anderen Ende des Zimmers, weiter ging es nicht. Aber dort war ein
Fenster.
Das Licht der Kerze, die sie krampfhaft umfasst hielt, spiegelte sich in
der Scheibe.
Mireille Feydeau war noch nicht so weit am Boden zerstört, dass sie völlig
in Lethargie verfiel. Klar erkannte sie, dass der Weg zur Tür, durch die sie
eben noch gekommen war, versperrt war. Also blieb nur die Flucht nach vorn.
Die Flucht durchs Fenster!
Klar stand dieser Gedanke im Mittelpunkt der Möglichkeiten, nach denen sie
verzweifelt suchte.
Sie musste raus aus diesem Haus. Die verängstigte Frau flog förmlich gegen
das Fenster und riss es sofort auf. Mireille handelte mechanisch, und die Angst,
dass sie jeden Augenblick den Verstand verlor und hier nur Dinge sah, die in
Wirklichkeit gar nicht vorhanden waren, beherrschte sie.
Mit zitternder Hand suchte sie den Riegel, der den Laden hielt.
Aber da war keiner mehr.
Der Laden war von außen gesichert!
Mireille schlug dagegen. Er bewegte sich nicht. Wie eine Wand verschloss er
den einzigen Ausweg, den sie zu finden geglaubt hatte.
Aber da war noch einer, während der Schlangenhimmel von der Decke rutschte
und sie durch einen Wust von glitschigen Leibern waten musste, der über ihre
Knöchel hinausreichte.
Die Tür!
Hoffentlich war sie nicht verschlossen. Unter dem Türspalt glaubte sie
schwachen Lichtschein wahrzunehmen.
Sie drückte die Klinke. In dem Augenblick erschütterte ein mörderischer
Aufschrei die fiebernde Atmosphäre dieses unheimlichen Hauses.
Der Schreckensschrei aus Mireille Feydeaus Mund und der Todesschrei aus der
Kehle eines Mannes erschütterten die Wände.
Das, was Mireille Feydeau sah, war so furchtbar, dass sie durchdrehte.
●
Das kleine Dorf lag wie
Weitere Kostenlose Bücher