010 - Die Bestie mit den Bluthänden
die beiden Frauen fünf Minuten später aus dem Mitteltrakt
wieder hinüber zum Haupthaus. Armand stand an der Tür und ging Mireille Feydeau
entgegen, als er sie an der Seite der Sekretärin sah. Sie reichten sich die
Hand, und Madame strahlte über das ganze Gesicht, als Armand ihr einen Kuss auf
die Hand hauchte.
»Armand! Ist das eine Freude, Sie hier zu sehen! Warum sind Sie nicht schon
früher gekommen?« Sie sprach schnell und leise, und Nicole registrierte, dass
sie diese merkwürdige Frau noch nie in einer solchen Verfassung gesehen hatte.
»Ich habe die Stunden mit Ihnen vermisst, lieber Freund, Ihren Rat, die netten
Gespräche mit Ihnen. Es war eigentlich das Einzige, was mir nach meiner Ankunft
hier fehlte. Wo kommen Sie her? Aus Lyon?«
Er gab eine Geschichte zum Besten, die sich er und Feydeau ausgedacht
hatten.
Danach war er bei einem Zulieferer für ein Feydeau-Produkt in der Bretagne
gewesen und hatte Vorgespräche geführt, die Monsieur Feydeau in den nächsten
Wochen fortsetzen wollte.
»Sprechen Sie nicht zu oft von meinem Mann, Armand«, sagte sie, als er kurz
innehielt. »Wenn Sie mich bei Laune halten wollen, reden Sie mehr von sich.«
Sie lachte und war trotz allem in bester Stimmung. Das unerwartete Auftauchen
dieses jungen Burschen, der gut zehn bis zwölf Jahre jünger als sie war, hatte
sie wie umgekrempelt.
»Ich hab mir also gedacht: Auf dem Rückweg musst du durch Rostrenen, mach
also einen Abstecher zu Madame Feydeau«, sagte er strahlend.
»Und niemand weiß etwas von ihrem Besuch?«
»Nein, niemand.«
Mireille Feydeau kniff die schönen Augen zusammen, in denen der Schalk
blitzte. »Wie ich Sie kenne, haben Sie sich bestimmt etwas ausgedacht, um mich
zu überraschen?«
Sie kannte ihn gut. »Zunächst mal muss ich mich entschuldigen. Ich hab
Ihnen nicht mal einen Strauß Blumen mitgebracht, da ich nicht wusste, ob ich
überhaupt herfinden würde, Madame. Mir war die Lage des Heims nur in etwa
bekannt, aber dann habe ich es doch gefunden. Und ich möchte Sie einladen zu
einem kleinen Plausch bei einer Flasche Rotwein, irgendwo in einem netten
Restaurant in Rostrenen.«
Das geht bestimmt schief, dachte Nicole Forcier. Aber dies bewies nur, wie
wenig sie Madame wirklich kannte. Sie reagierte wie ein glückliches junges
Mädchen. »Wunderbar! Auf so eine Idee können nur Sie kommen.«
War es die Möglichkeit?
Mireille Feydeau, die freiwillig hier war, um in Ruhe und Abgeschiedenheit
mit sich selbst ins Reine zu kommen und ein paar Wochen hier zu verleben,
entwickelte einen Tatendrang, der beachtenswert war. »Wir fahren sofort los!
Das heißt: Wenn Dr. Sandos es erlaubt.«
Der Arzt hatte nichts dagegen. Abwechslung könne nicht schaden, meinte er.
So kam es, dass Mireille Feydeau noch mal zurück in ihr Zimmer ging, sich
eine Wolljacke holte und dann in dem goldfarbenen Citroën neben Armand Dupont
Platz nahm, in der Erwartung, einen zwanglosen Nachmittag in Rostrenen zu
verbringen.
Sie versprach, nach Einbruch der Dunkelheit wieder zurück zu sein.
»Allerdings«, schränkte sie ein, »wenn uns mehr als eine Flasche schmecken
sollte, Doktor, darf es auch etwas später werden?«
Der Arzt lachte. »Darf es, natürlich. Aber nach Möglichkeit wäre es mir angenehm,
wenn ich spätestens bis Mitternacht alle meine Schäfchen wieder beisammen
hätte.«
Sie lachte ebenfalls. »Doktor, Sie können sich darauf verlassen.« Armand
Dupont brauste los.
●
Dr. Manuel Sandos und Nicole Forcier blickten dem entschwindenden Wagen
nach.
»Man lernt nie aus«, murmelte der Arzt. »Da taucht eine wildfremde Person
auf, von der sie nie etwas erwähnt hat, und sie ist eine ganz andere. Liebe?
Wohl kaum. Dazu ist er nicht der richtige Typ. Es ist eine andere Art von
Zuneigung, es ist Vertrauen, grenzenloses Vertrauen, was diese beiden Menschen
bindet. Heute ist sie überglücklich, hoffentlich kommt dann morgen nicht das
Tief. Ich lerne Madame von einer ganz neuen Seite kennen.«
Sie blickten dem Wagen nach, bis er hinter einer Kurve verschwand. Der
junge Mann mit dem sanften Wesen sollte nur ein einziges Mal hier gewesen sein.
Zum ersten und zum letzten Mal!
Sie sollten ihn nie wiedersehen. Ebenso wenig Mireille Feydeau. Das
Schicksal nahm seinen Lauf!
●
Auf halbem Weg nach Rostrenen ließ Armand Dupont die Katze aus dem Sack,
allerdings ohne den geringsten Verdacht zu erregen, dass mit seinem Besuch
etwas faul sei.
Mireille Feydeau hörte aufmerksam zu, als
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