0101 - Die Menschentiger
taugen alle nicht viel«, meinte Kon Siang. »Können sie auch nicht. Geographen muß dieses Gebiet zur Verzweiflung treiben. Die Gegend wird auf Jahre hinaus immer nur ein verwaschener weißer Fleck auf allen Karten bleiben, weil der Ganges zur Zeit der Monsunregen die Konturen der Inselchen und Kanäle umformt, wie es ihm gerade gefällt. Da werden Festlandstücke überflutet und tauchen im Herbst nicht wieder auf. Sie wurden weggespült. Dafür tauchen andere an anderer Stelle auf. Keine Karte kann in so einem Fall etwas taugen.«
»Aber Barisal?« fragte Bill Fleming mit wenig Hoffnung.
Kon Siang beugte sich über das bunte große Blatt.
»Hm«, meinte er. »Liegt immerhin fünf Meter über dem Meeresspiegel. Eine Tankstelle ist eingetragen und eine Straße. Die Stadt dürfte um die 4000 Einwohner haben. Ich denke schon, daß man von hier aus etwas unternehmen könnte.«
Kom Siang bemühte sich, möglichst optimistische Töne anzuschlagen, und Bill bemerkte das auch. Er bemerkte auch, daß der sympathische Thai ihm keine wirklichen Chancen einräumte, die Freunde jemals wiederzufinden. Jede Diskussion darüber, wie Professor Zamorra und das Mädchen überhaupt lebend dorthingelangt sein sollten, wurde bislang peinlich vermieden. Aus verständlichen Gründen. Es widersprach jeder Vernunft, daß Zamorra und Nicole überhaupt noch am Leben waren.
Der Thai räumte allerdings ein, daß es auch jeder Vernunft widersprach, daß sie aus dem Flugzeug hatten verschwinden können. Vielleicht beteiligte er sich deshalb so eifrig an der Suche nach irgendwelchen Ansatzpunkten, an denen man den Hebel ansetzen konnte.
Nördlich von Barisal gab es auf 150 Kilometer keine Ortschaft mehr.
»Hier irgendwo«, sagte Kon Siang vage und fuhr mit seinem Finger über die Karte. »Wenn sie überhaupt runtergekommen sind, dann ist es womöglich hier.«
Der Finger beschrieb ein Gebiet von mehreren tausend Quadratkilometern. Bills Hoffnungen sanken auf den Nullpunkt zurück. Sogar noch ein ganzes Stück darunter.
Aber er gab nicht auf.
»Ich muß nach Barisal«, sagte er wie im Fieber. »Und ich werde das Gefühl nicht los, daß ich möglichst bald dort sein muß.«
Kon Siang musterte den Amerikaner unter hängenden Lidern. Er konnte nicht umhin, dessen verhaltene Kraft, dessen Unternehmungsgeist in einer für den Thai aussichtslosen Situation zu bewundern. Es war doch etwas dran an diesen Amerikanern. Sie gaben nie auf. Selbst wenn sich sämtliche Teufel der Hölle gegen sie verschworen hatten.
Das beeindruckte ihn.
Beinahe gegen seinen Willen fragte er: »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Mister Fleming?«
Bill schaute ihn forschend an.
»Natürlich können Sie das, Mister Siang. Sorgen Sie dafür, daß ich eine befristete Aufenthaltsgenehmigung bekomme, und besorgen Sie mir ein Flugzeug, das bei Barisal wassern kann. Mit einem Boot bräuchte ich länger als einen Tag.«
Kon Siang stöhnte verhalten auf und hätte um ein Haar seine Hilfsbereitschaft verflucht.
Bill Fleming bemerkte das und griente bitter. Er wußte sehr genau, daß er nach einem Strohhalm griff.
Ein »Strohhalm« ist ungeheuer wenig.
Aber er mußte zumindest versuchen, Zamorra und Nicole zu finden.
***
Zamorra sah bald ein, daß sie nicht mehr lange auf dieser schwimmenden Insel bleiben konnten. Sie war etwa zehn Meter lang und nicht ganz so breit. Irgendwo, weit oben im Fluß, waren einmal Äste ins Wasser gestürzt, Erde hatte sich daran verfangen, und Vegetation wuchs bald heran, die jetzt einen trügerischen Untergrund bildete. Sie trieben behäbig wie auf einem Floß. Die Pagode war nur mehr ein winziger Punkt im Norden. Die Sonne stieg gleißend über die Baumkronen, und innerhalb kürzester Zeit begannen Zamorras Kleider zu dampfen. Die Hitze sog die Feuchtigkeit auf wie ein nie zu füllender Schwamm.
Nicole überschattete ihre Augen mit der Hand. Sie hatte die Pagode ebenfalls schon entdeckt. Auch wälzte sie dieselben Gedanken wie Professor Zamorra. Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin.
»Lieber nicht« meinte Zamorra in ihr Denken hinein. »Krokodile gibt es hier zwar nicht, dafür jedoch jede Menge Schlangen. Einige von ihnen halten sich mit Vorliebe in Sumpfwasser auf, und ihr Biß ist tödlich.«
Nicole erschauderte. Trotz der Hitze rieselte ihr ein Kälteschauer den Rücken hinab. Zamorra konnte sehen, wie sie eine Gänsehaut bekam.
Was machen wir dann? fragten ihre großen ausdrucksvollen Augen, die einen gelblichen Schimmer
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