0102 - Die Horde aus dem Jenseits
Wer hindert dich daran?«
»Du!«
»Erwartest du, daß ich darüber lauthals lache? Ich bin mir keiner Schuld bewußt.«
Geraldine legte ihre Hände in den Schoß, sah Walter Sherman nicht mehr an, verlangte mit heiserer Stimme: »Ich möchte, daß du mich jetzt sofort nach Hause fährst, Walt.«
»Darf ich wenigstens die Zigarette noch fertigrauchen?«
»Nein.«
»Okay, Prinzessin. Dann wird Euer Diener eben während der Fahrt rauchen«, bemerkte der Junge verdrossen. Er klappte seinen Sitz hoch. Geraldine tat dasselbe. Zwischen zwei Bäumen schimmerte ihr etwas entgegen. Ihr Herz schlug sogleich schneller. Sie konnte nicht genau erkennen, was es war, aber sie hielt es für das bleiche Oval eines Gesichts…
***
Der Mann hatte einen mächtigen Buckel, breite Schultern und lange Affenarme, die fast bis zum Boden reichten. Auf seinen Fingern wuchsen schwarze Haarbüschel. Die Nägel waren lang und wirkten wie Krallen.
Nicole Duval preßte die Lippen fest aufeinander.
Der Mann kniff die schwarzen Kohleaugen zusammen. Seine Brauen hatten einen dämonischen Schwung nach oben. Sie waren buschig, die Stirn weit nach vorn gewölbt und von dicken Warzen bedeckt. Auch die Nase, die wie ein scharfer Geierschnabel hervorsprang, war mit knotigen Auswüchsen überwuchert. Große, unregelmäßige Zähne blitzten im Mund von Zamorras Gegenüber, als sich die harten Lippen nach oben schoben.
»Pater Jonas ist nicht da«, sagte der Mann mit einer dumpfen Stimme, die aus einem riesigen Faß zu kommen schien. »Ich bin der Küster. Kann ich etwas für Sie tun?«
Professor Zamorra übernahm es, sich und seine Freunde vorzustellen, und fuhr dann fort: »Wir hätten ein paar Fragen an Sie. Dürfen wir eintreten?«
Der Küster - sein Name war Alan Hughes - überlegte kurz und gab dann die Tür frei.
Er führte die Freunde in einen spartanisch eingerichteten Wohnraum. Sie nahmen um einen roh gezimmerten runden Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, Platz. Alan Hughes legte seine gewaltigen Pranken auf die Tischplatte und starrte Nicole Duval so durchdringend an, daß dem Mädchen ganz eigen ums Herz wurde. Einen so außergewöhnlichen Küster hatte sie in ihrem Leben noch nie gesehen. Hughes sah eher aus wie ein gemeingefährlicher Massenmörder.
Der Bucklige hob seine fleischigen Schultern. Seine Augen wanderten zu Zamorra weiter. »Nun, fragen Sie«, forderte er den großen, schlanken Professor auf.
»Wir haben gehört, was hier in Nantwich vor zwei Nächten geschehen ist«, sagte Zamorra einleitend.
Die dunklen Brauen des Küsters zogen sich wie dräuende Gewitterwolken zusammen. »Oja. So etwas macht schnell die Runde.« Hughes schüttelte langsam den Kopf. »Der arme Travers. Er war ein guter, gottgläubiger Mensch. Er ging jeden Sonntag zur Kirche, und bei der Kollekte war er niemals knauserig. Ein standhafter Christ, dem keiner im Dorf etwas Übles nachsagen kann.«
Zamorra lehnte sich zurück. »Sie wissen vermutlich, wie das mit diesen Hörensagen-Geschichten so ist, Mr. Hughes. Jeder schmückt die Sache nach seinem Geschmack aus, und wenn die Story von zehn Leuten weitererzählt wurde, stimmt sie hinten und vorn nicht mehr.«
»Sie scheinen die Menschen sehr gut zu kennen, Professor«, sagte der Häßliche. Er lächelte, doch selbst diese freundliche Geste machte auf Nicole Duval einen bedrohlichen Eindruck.
»Ich habe viel mit Menschen zu tun. Da lernt man sie zwangsläufig kennen«, gab Zamorra zurück. »Aus diesem Grund möchte ich Sie bitten, meinen Freunden und mir präzise zu schildern, was sich hier vor zwei Nächten zugetragen hat, Mr. Hughes.«
Der Küster rieb sich sein kantiges Kinn. »Weshalb interessieren Sie sich dafür?« fragte er mißtrauisch.
Zamorra nickte. »Vielleicht hat diese Frage ihre Berechtigung, Mr. Hughes. Ich weiß nicht, wieweit Sie über die Vorfälle der letzten Zeit in anderen Dörfern unterrichtet sind. In Whitchurch zum Beispiel sind sämtliche Kühe eines Großbauern von einem Wolf zerfleischt worden, zwei Kinder wurden verschleppt, und eine alte Frau wurde über Nacht wahnsinnig. In Oswestry gab es ein Erdbeben, das mehrere Häuser zerstörte, aber von keinem einzigen Seismographen registriert wurde. Im Lagerhaus verfaulte das Korn. Und aus dem Leichenhaus verschwanden spurlos zwei Tote. In Crawen Arms erschoß sich der Bürgermeister vor seinen Familienangehörigen, aus mehreren Wasserleitungen rann dunkelrotes Blut, und zahlreiche Dorfbewohner wurden von einer
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