0103 - Im Bannstrahl des Verfluchten
Stelle ein. Der Eilzug hatte den Bahnhof noch nicht einmal verlassen.
Anders Zamorra. Er befand sich immer noch in einer Phase psychischer Angespanntheit. Ein Zustand, der keinen ruhigen Schlaf zuließ. Er wälzte sich noch auf dem Oberbett hin und her, als der Zug die Station schon längst hinter sich hatte. Sie fuhren nur langsam. Vermutlich der Schneelokomotive wegen, die dem eigentlichen Zug vorausfahr und die verwehte Strecke freimachen mußte. Er sah noch die Lichter des Bahnhofs von Hyvinkää an den angelaufenen Fenstern des Abteils vorbeifliegen.
Noch reichlich 200 Kilometer bis Tampere. Wenn sie ihr jetziges Tempo beibehielten, würden sie diese Stadt nicht vor acht Uhr morgens erreichen. Und selbst dann waren sie noch lange nicht am Ziele.
Sie mußten weiter in Richtung Kokimäki. Womöglich mit einem noch langsamer fahrenden Personenzug, denn Vammala war nicht an das Schienennetz angeschlossen. Nicole würde wissen, wo sie auszusteigen hatten. Und vermutlich wußte sie auch bereits, wie man über den zugefrorenen Rautaverst-See dann endgültig in diese gottverdammte Stadt Vammala kam, die der Schneesturm unter sich begraben hatte.
Irgendwann schlief auch Professor Zamorra ein. Es war kein heilsamer, kein ruhiger Schlaf, der ihn umfing.
***
»Tampere - Tammerfors!«
Diese Durchsage riß sowohl Nicole Duval als auch Professor Zamorra hoch. Das nächste ihrer vielen Ziele auf dem Weg nach Vammala hatten sie erreicht.
Nicole nahm sofort die winzige Nische mit dem Waschbecken und dem Spiegel in Beschlag. Anschließend blieb Zamorra keine Zeit mehr für irgendwelche Toilette. Der Schlafwagenschaffner scheuchte sie auf und vertrieb sie.
Immerhin kam Zamorra hier mit der Sprache zurecht. Fast alles sprach schwedisch. Deshalb auch die ergänzende Durchsage »Tammerfors«. Die Schweden hatten das Land über Jahrhunderte hinweg regiert. Schwedisch blieb neben dem Finnischen eine Staats- und Behördensprache.
Wie Professor Zamorra befürchtet hatte, mußten sie nach Kokimäki in einen noch langsameren Personenzug umsteigen. Sie verließen ihn bei Ratämi, das nur aus einem Bahnhof und drei Häusern bestand. Dahinter erstreckte sich die weiße, schneebedeckte Fläche des Rautaverst-Sees.
Nicole gabelte einen Motorschlitten auf, der sie hinüber nach Vammala brachte, wo Zamorras schlimmste Befürchtungen von der Wahrheit noch übertroffen wurden.
In Kim Lisöjns Haus stieß er auf eine hübsche dunkelhaarige Frau, die sich ihm als Astrid Läla vorstellte und verweinte Augen hatte.
Zamorra nannte seinen Namen, und Frau Läla erinnerte sich an ihn. Sie hatte Kim Lisöjns Päckchen zur Post gebracht.
Es war kalt im Haus.
»Er ist verschwunden«, klagte Astrid Läla. »Es ist meine Schuld. Ich hätte gestern bei ihm bleiben sollen. Er war die ganzen letzten Tage über schon sehr verstört. Aber ich habe ihm halb eine Szene gemacht.«
Sie konnte ihr Schluchzen nicht unterdrücken. Zamorra legte ihr einen Arm um die zuckenden Schultern und zog die Frau an sich.
»Sie müssen sich deshalb keine Sorgen machen«, meinte er, und gleichzeitig fiel ihm ein, daß Nicole denselben Ausdruck gebraucht hatte. Gestern, als er so fluchtartig die Telefonzelle auf dem Charles-de-Gaulle-Flughafen verließ.
War es wirklich erst einen Tag her, daß er Kim Lisöjns Nachricht bekommen hatte?
»Nun beruhigen Sie sich erst mal«, sagte er, »und erzählen Sie mir genau, was vorgefallen ist.«
Die Frau begann stockend zu berichten, doch Zamorra erkannte bald, daß Kim Lisöjn sie nur sehr oberflächlich eingeweiht hatte. Viel wußte sie nicht. Ihre Auskünfte halfen ihm kaum weiter.
Stutzig wurde er erst, als sie ganz beiläufig von einem seltsamen Fund erzählte, den sie bei einem gemeinsamen Ausflug gemacht hatten. Ein Schädelknochen, von dem Kim angenommen hatte, er sei uralt.
Bislang hatte Professor Zamorra dem angrenzenden Laboratorium nur einen kurzen Blick gewidmet. Jetzt betrachtete er die Einzelheiten näher.
»Können Sie diesen Schädel hier irgendwo entdecken?« fragte er, einer plötzlichen Eingebung folgend.
Astrid Läla trat mit verweinten Augen neben ihn. Durch den feuchten Schleier vor ihren Pupillen nahm sie die Umgebung nur verschwommen wahr. Dankbar betupfte sie sich mit Nicoles Taschentuch, das die junge Frau ihr gereicht hatte. Das Bild, das sich ihr bot, wurde klarer.
Zuerst musterte sie die Reihe der Schädel aus dem Friedhof von Vammala. Die standen alle noch auf ihren Plätzen im Regal. Doch
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