0107 - Die Geier und der Wertiger
berichtete George McKammit mit belegter Stimme. »Und dann hatten wir auf einmal einen Wertiger vor uns.«
»War der denn deutlich zu sehen?« fragte ich.
»Ganz deutlich«, bestätigten mir beide Seeleute.
»Und der Schleier…?«
»War nicht mehr vorhanden«, sagte McKammit.
»Hat das Monster Sie angegriffen?«
»Dazu ließen wir es nicht kommen. Wir ergriffen Hals über Kopf die Flucht.«
»Das war das Beste, was Sie tun konnten.« Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Grogger und McKammit waren im Geist mit ihrem schrecklichen Erlebnis beschäftigt. Sie gaben mir auf meine weiteren Fragen nur knappe, manchmal sogar unpassende Antworten.
Wir gingen ein Stück weiter. Allmählich kam das Gespräch wieder in Schwung. »Wann werden Sie mit der MONA LISA auslaufen?« erkundigte ich mich.
»Das wissen die Götter«, antwortete Grogger. »Ich würde lieber heute als morgen in See stechen«, sagte McKammit.
»Das kann ich verstehen«, bemerkte ich.
»Früher war Bombay eine Stadt, auf die ich mich freute«, sagte Grogger. »In Zukunft wäre es mir jedoch lieber, wenn wir darum herum einen großen Bogen machen würden.«
»Haben Sie schon mal von der schwarzen Sekte gehört, Oberinspektor?« fragte McKammit.
Ich horchte auf. »Nein. Was wissen Sie von ihr? Das interessiert mich.«
»Die Mitglieder dieser neuen Sekte sollen zu vielen Dingen fähig sein«, berichtete McKammit. »Angeblich haben sie ein Bündnis mit den Mächten der Finsternis geschlossen und werden von diesen mit schwarzmagischen Kräften versorgt. Es heißt, daß sie Tote aufwecken können. Sie können über ihre Mitmenschen Krankheit, Siechtum und Tod bringen. Es liegt angeblich auch in ihrer Macht, bei anderen Menschen Halluzinationen hervorzurufen.«
»Wer steht dieser schwarzen Sekte vor?« wollte ich wissen.
»Wir kennen seinen Namen nicht«, sagte McKammit. »Sie huldigen dem Bösen. Wahrscheinlich ist einer aus ihrer Mitte von der Hölle mit der Fähigkeit der Metamorphose ausgestattet worden, wodurch es ihm möglich wurde, sich in einen Wertiger zu verwandeln.«
»Aus wie vielen Mitgliedern besteht die Sekte?«
McKammit zuckte überfragt mit den Schultern. »Mir kam zu Ohren, daß nur die verkommensten Menschen Aufnahme finden. Personen, die das Böse immer schon in ihrem Blut getragen haben.«
»Können Sie mir sagen, wo diese schwarze Sekte ihren Sitz hat?«
»Nicht direkt in Bombay.«
»Wo?«
»Außerhalb. Es heißt…« McKammit sprach nicht weiter. Aus seinem Gesicht, soweit es vom struppigen Bart nicht zugedeckt war, wich alle Farbe.
Sein Blick war starr nach oben gerichtet.
»Nein!« stieß im selben Moment Grogger überwältigt hervor.
Auch er schaute entsetzt zum Himmel hinauf.
Ich hörte ein Kreischen und Krächzen und wirbelte auf den Hacken herum.
Und dann sah auch ich sie – die skelettierten Geier, die uns im Sturzflug angriffen!
***
Noch jemand interessierte sich für die schwarze Sekte: Harald McClure und William van Dyke, zwei Ritualforscher und Journalisten aus London.
Sie verließen das Hotel »Taj Mahal« am späten Vormittag. McClure hatte einen Landrover besorgt.
Das Fahrzeug stand auf dem Hotelparkplatz. Die Männer bestiegen es und fuhren los. Sie kamen am Gateway of India vorbei – dem »Tor zu Indien«.
Diese Triumphpforte wurde 1911 aus Anlaß der Landung des Königs Georg V. der zur Kaiserkrönung nach Delhi kam, erbaut.
McClure, der den Rover lenkte, folgte der Marine Street zum Elphinstone Cercle.
William van Dyke – seine Vorfahren stammten aus Holland – nagte an seiner Unterlippe. Er war ein schlanker blonder Mann mit scharf geschnittenen Zügen und glattrasierten Wangen.
»Woran denkst du?« fragte Harald McClure. Er war grobknochig und breitschultrig und hatte rotes Kraushaar – und im Gesicht Tausende von Sommersprossen.
Van Dykes Brauen zogen sich zusammen. »Ich weiß nicht, ich habe bei der Sache plötzlich kein gutes Gefühl mehr.«
McClure lachte. »Du hast doch nicht etwa Angst, he?«
»Was wir vorhaben, kann verdammt gefährlich werden.«
»Dessen waren wir uns von Anfang an bewußt. Wir gehen nicht zum erstenmal ein Risiko ein. Wer einen guten Bericht schreiben möchte, der muß heutzutage bereit sein, mehr auf sich zu nehmen als seine Kollegen, sonst läuft er ewig mit der Schar mit.«
»Das ist klar. Aber der Einsatz muß immer in einer vernünftigen Relation zu dem stehen, was man aus einer Sache herausholen kann«, sagte van Dyke.
»Die schwarze Sekte ist
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