0109 - Verlies der Angst
aushauchen. Die feurigen Speere der Rache sollten sie treffen und sie zu Dienern des großen Sadin machen.
So stand es geschrieben. So hatten es die unheiligen Schriften der Alten gewollt.
Auf der Lichtung redete Rolf Hartmann weiter. Er sprach jetzt mehr über die Germanen als über die Wikinger. Die Kinder hörten gespannt zu, denn er konnte sehr anschaulich berichten.
Dann jedoch hob Volker seine rechte Hand und schnippte mit dem Zeigefinger.
»Was ist denn?« fragte Rolf Hartmann.
Der Arm des Jungen sank wieder nach unten, beschrieb einen Halbbogen und zeigte auf ein Grab. »Warum sind denn dort die Steine umgefallen?« wollte er wissen.
Hartmann stand auf. Auch der Junge hatte sich erhoben. Der Lehrer schaute über die Köpfe der Kinder hinweg.
Tatsächlich. Vor einem Grab waren die Steine umgekippt oder umgekippt worden.
Wenn letzteres zutraf, von wem? Rolf Hartmann schaute die Kinder der Reihe nach an. »Hat einer von euch sich an den Steinen zu schaffen gemacht?« Er glaubte es selbst nicht, denn soviel Kraft besaßen die Kinder nicht.
Kopfschütteln.
»Nein, ich habe auch nichts gesehen«, meldete sich Fräulein Haupt.
»Vielleicht ist jemand rausgekommen«, vermutete Volker.
»Unsinn.«
»Liegen die Toten noch in den Gräbern?« fragte Bettina.
Rolf Hartmann nickte.
»Können wir sie vielleicht sehen?« Klaus drängte sich nach vorn und sprach seinen Lehrer an.
»Nein!«
»Warum nicht? Die Gräber sind doch groß genug.«
»Aber auch gefährlich«, erwiderte Hartmann. »Was denkt ihr, was geschieht, wenn solch ein Stein umkippt?« Schweigen.
»Es bleibt dabei«, entschied der Lehrer, »wir sehen uns die Gräber nur von außen an.«
Die Kinder murrten zwar, aber sie mußten sich mit dieser Entscheidung zufriedengeben.
Rolf Hartmann winkte seine Jungen und Mädchen und ging mit ihnen zu dem Grab, das noch intakt war. Hier hatte niemand die hohen Steine vom Eingang weggekippt.
Der junge Lehrer warf seiner älteren Kollegin einen fragenden Blick zu.
Fräulein Haupt schüttelte den Kopf. Sie wollte bei ihrem Grab stehenbleiben, so hatte sie einen besseren Überblick. Sie fühlte sich als reine Aufsichtsperson degradiert, denn den Unterricht hielt ihr jüngerer Kollege. Kontakt zu den Kindern fand sie sowieso nicht.
Sie konnte und wollte sich auch nicht mehr in die Lage dieser jungen Menschen versetzen. Sie lebte im Gestern, und dabei blieb es.
Rolf Hartmann und seine Schüler schauten sich das Hügelgrab genau an. Die Jahrhunderte hatten ihre Spuren auf den Steinen hinterlassen. Eine fingerdicke Moosschicht schillerte grünbraun.
Ameisen und kleine Käfer krabbelten in Ritzen und Spalten. Um die einzelnen Steine auseinanderzubekommen, mußte man schon viel Kraft einsetzen, denn in den Zwischenräumen hatte sich das Moos so festgesetzt, als bestünde es aus Beton.
Rolf Hartmann hatte sich gut vorbereitet. Aus der Innentasche seiner Jacke holte er einen kleinen Metallschaber und begann, an der Moosschicht zu kratzen.
Neugierig traten die Kinder näher.
»Was suchen Sie, Herr Hartmann?« wurde der Lehrer gefragt.
»Vielleicht können wir ein paar alte Schriftzeichen entdecken.«
»O ja.« Die Kinder waren ganz begeistert.
Sie schauten zu, wie ihr Lehrer Schicht für Schicht entfernte und schließlich das blanke Gestein zum Vorschein kam.
Es sah grau aus.
»Wir sehen aber nichts«, meinte Klaus und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
Rolf Hartmann ließ sich dadurch nicht entmutigen, er kratzte weiter.
Und er hatte Glück.
Plötzlich entdeckten sie ein Schriftzeichen, das tief in den Stein gemeißelt war.
Die Kinder waren plötzlich aufgeregt. Sie hatten nur noch Augen für den Stein. Niemand achtete auf Fräulein Haupt, die noch immer auf dem alten Fleck stand und nur zuschaute.
Noch ahnte sie nichts von der Gefahr, die tief im Hügelgrab heranwuchs.
Einer der Toten hatte sich aus seinem Baumrindensarg erhoben, war durch den Schacht gestiegen und befand sich dicht am Ausgang. Er hatte die knorrigen Hände gekrümmt, die Arme waren weit ausgestreckt.
Er wollte sein Opfer bekommen, und er würde es kriegen.
Die Lehrerin merkte nichts davon, sie war völlig ahnungslos.
Der Tote kam näher.
Schon spürte er die kühlere Luft, aber auch das warme Leben, und sein vertrocknetes Gesicht verzog sich zu einer diabolischen Grimasse.
Fräulein Haupt reckte in diesem Augenblick den Hals, um besser sehen zu können.
Das war die Chance für das Monster.
Blitzschnell griff es
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