0109 - Verlies der Angst
zu.
Die Klauen fanden sofort ihr Ziel. Sie umklammerten den Hals der Frau. Fräulein Haupt kam nicht einmal dazu, einen Schrei auszustoßen, denn mit einem gewaltigen Ruck zog der lebende Tote sie in das Hügelgrab hinein.
Plötzlich war der Platz vor dem Steingrab leer.
Die Kinder bemerkten nichts. Rolf Hartmann hatte inzwischen weitere Schriftzeichen freigelegt und auch die dunklen Vorahnungen vergessen, die ihn zuvor bedrückten.
Er kannte sich in der Runensprache einigermaßen aus, aber die Zeichen, die er nun zu sehen bekam, waren ihm zuvor noch nicht begegnet. Was mochte das sein?
Außerdem zeigten sie Figuren. Menschen, die in Särgen lagen, wenn man genauer hinschaute. Die Kinder fragten natürlich, doch ihr Lehrer gab ihnen keine Antwort.
Plötzlich hatte er Angst, weiterzusuchen. Er ließ die Hand sinken und steckte den Schaber weg.
»Schluß jetzt, Kinder«, verkündete er.
Rolf Hartmann schaute auf seine Uhr. »Außerdem ist es spät geworden. Die Schulzeit ist schon vorbei, und ihr müßt auch noch zum Mittagessen.«
»Aber Fräulein Haupt ist weg!« rief die kleine Bettina plötzlich.
Der Lehrer zuckte zusammen. Er drehte sich um und bekam große Augen. In der Tat war der Platz, wo Fräulein Haupt gestanden hatte, verwaist.
War sie gegangen?
Nein, sicherlich nicht, dann hätte sie Bescheid gesagt.
Rolf Hartmann schluckte. »Laßt mich mal durch, Kinder«, sagte er. Schweigend öffneten die Jungen und Mädchen ihren Kreis.
Der Lehrer rief den Namen seiner Kollegin.
Nichts. Das Echo seiner Stimme verlor sich im Wald. Der junge Lehrer spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er ging auf das Grab zu, blieb jedoch auf halber Strecke stehen.
»Ich glaube, wir müssen Fräulein Haupt suchen«, sagte er.
»Kommt Kinder, sehen wir nach…«
Rolf Hartmann vermutete seine Kollegin im Wald. Doch mit dieser Prognose war er meilenweit von der Wahrheit entfernt…
***
Zu viert gingen wir zum Haus des Naturkundeforschers und Geschichtsmenschen.
Das waren Will Mallmann, Wachtmeister Hansen, Suko und ich.
Wir lernten auf dem Weg auch ein wenig das Dorf kennen. Ich sah zahlreiche Fachwerkhäuser, deren Außenwände aus roten Klinkersteinen gebaut worden waren. Die Luft schmeckte noch nicht nach Benzin, sondern nach frischem Gras, und in machen Ställen muhten Kühe oder quiekten Schweine.
Wir überquerten einen kleinen Bach. Die Brücke war aus Stein und schien unter Denkmalschutz zu stehen, so alt kam sie mir vor.
Natürlich wurden wir angestarrt. Fremde fielen in einem Ort wie diesem immer auf. Aber das machte uns nichts, solange die Leute nur schauten.
An einer mit Efeu umrankten Steinmauer schritten wir vorbei und erreichten das kleine Haus des Heimatforschers. Als ehemaliger Rektor der Dorfschule verbrachte er auch seinen Lebensabend mit Forschungen und Arbeit.
Er hieß Matthias Maurer.
Sein Haus erreichten wir über eine steile Treppe. Auch an der Wand wuchs Efeu hoch. Vor der Tür gab es einen laubenähnlichen Vorbau, wo eine grün gestrichene Bank stand.
Die Holztür besaß ein kleines Fenster. Es war ein auf die Spitze gestelltes Rechteck. Bevor ich meinen Daumen auf die Klingel legte, wurde geöffnet.
Ein weißhaariger älterer Mann mit sonnenbraunem Gesicht, in dem auch die zahlreichen Fältchen nicht störten, stand vor uns.
»Ah, die Herren von der Polizei«, wurden wir begrüßt, »kommen Sie bitte herein.«
Wir bedankten uns und betraten das Haus, nachdem sich jeder die Schuhe abgeputzt hatte.
Das Haus war nicht groß, aber gemütlich. Überall hingen Bilder.
Sie zeigten die Heidelandschaft mit all ihren Heidschnucken, blühenden Wiesen und langen Gebüschgürteln.
Wir gingen ins Arbeitszimmer.
Eine bequeme Sesselgruppe bot Platz für uns alle. Dann kam die Frau des Hausherrn und bot ein selbstgebrautes Getränk an. Es war ein Schnaps, der nicht in der Kehle brannte, dafür jedoch im Magen.
Sogar Suko trank ein Glas leer. Dabei verzog er nicht eine Miene.
Frau Maurer ließ uns allein.
Dem Fenster gegenüber befanden sich zahlreiche Regale an der Wand. Sie waren mit Büchern vollgestopft, und der ehemalige Rektor hatte auch einige auf den runden Tisch gelegt, der zwischen uns stand.
»Sie möchten etwas über die Hügelgräber wissen«, sagte Herr Maurer und lehnte sich zurück. »Wachtmeister Hansen hat mir schon etwas berichtet, aber so recht wollte er mit der Sprache nicht heraus. Was ist denn geschehen?« Matthias Maurer schaute Will Mallmann an.
Der Kommissar hatte
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