0109 - Verlies der Angst
Sie gingen. Normalerweise wären sie gerannt, aber so setzten sie nur langsam einen Fuß vor den anderen.
Sollten sie vielleicht etwas gespürt haben? Hatten sie einen sechsten Sinn? Eine Antenne für Gefahren?
Rolf Hartmann dachte zwar über dieses Problem nach, doch er kam zu keinem Ergebnis. Aufseufzend schritt er hinter den Kindern her, die bereits einen Kreis gebildet und sich hingesetzt hatten.
Fräulein Haupt blieb stehen. Sie trat bis dicht an eines der Hügelgräber und lehnte sich mit dem Rücken gegen die hohen Steine, um einen guten Überblick zu haben. Dabei übersah sie die Graböffnung. Es war nur ein schmaler Spalt, aber immerhin…
Rolf Hartmann ließ sich inmitten des Kreises nieder. Er riß einen Halm ab und drehte ihn zwischen den Fingern. »Ihr alle wißt, wer uns diese Hügelgräber hinterlassen hat – oder?« fragte er.
Mehrere Finger ruckten in die Höhe. »Die ollen Germanen!« rief der vorwitzige Klaus.
»Richtig, Klaus. Aber nicht diese hier. Diese sind uns von einem Volk hinterlassen worden, das weit im Norden von Europa lebte, und das berühmt durch seine Seefahrten geworden ist. Ja, dieses Volk soll sogar mit primitiven Booten bis nach Amerika gesegelt und gerudert sein. Wer kann mir den Namen nennen?«
Jetzt zeigten nur noch die älteren Schüler auf.
»Die Wikinger!« riefen mehrere Kinder auf einmal.
»Genau. Was wißt ihr davon?« Der Blick des Lehrers tastete die jungen Gesichter ab. »Klaus.«
Klaus war schon neun und immer vorwitzig und zu Streichen aufgelegt. »Das meiste haben Sie schon gesagt, Herr Hartmann«, meinte er altklug.
Die anderen Kinder lachten, und auch Rolf Hartmann schmunzelte, nur Fräulein Haupt schaute böse, weil sie diese Antwort als eine Respektlosigkeit empfand.
»Wovon lebten die Wikinger?« fragte der Lehrer.
»Von der Jagd.«
»Genau.«
»Und vom Fischfang.«
»Auch richtig!«
Jetzt meldete sich wieder der vorwitzige Klaus. »Dann gab es noch Thor mit dem Hammer!«
»Das ist gut«, lobte Rolf Hartmann den Jungen. »Thor war oder ist ein Gott, den die Wikinger und die Germanen verehrten.«
»Aber warum haben die Wikinger denn hier ihre Gräber?« fragte eine schüchterne Mädchenstimme. Es war die kleine Bettina.
»Wir können es nur raten. Sie waren ein Seefahrervolk und sind sicherlich auch an die deutsche Küste gekommen. Einige von ihnen werden sich bestimmt auf den Weg ins Landesinnere gemacht haben und sind hier gestorben und begraben worden.«
»Komisch.«
Rolf Hartmann nickte. »Das finde ich auch. Eigentlich ergibt es gar keinen Sinn, daß wir hier ihre Gräber finden. Aber sie sind nun mal da. Weiß einer von euch, wie sie ihre Toten bestattet haben?«
Schweigen.
»Dann will ich es euch sagen. Sie haben die Toten in Baumrinde gewickelt und zur Letzten Ruhe gebettet, denn Särge wie wir kannte man damals noch nicht.«
Bei diesen Worten bekam manches Kind eine Gänsehaut. Hartmann sah es und wechselte schnell das Thema.
Er kam auf die Germanen zu sprechen, redete über deren Kultur und über die Runenschrift.
»Woher kennt man die Zeichen?« kam die Zwischenfrage.
»Man hat sie auf Steinen gefunden«, erklärte der Lehrer. »Tief eingeritzt, so haben sie die Jahrhunderte überdauert.«
»Glaubten die Germanen auch an Dämonen?« fragte Volker.
Nach dieser Frage war es still. Dann meldete sich Fräulein Haupt.
»Dämonen gibt es nicht«, erklärte sie.
»Aber ich habe davon gehört. Mein Vater hat es mir erzählt. Es stand in einem Buch«, behauptete der Junge.
»Dann hat dein Vater gelogen.« Fräulein Haupt wollte nicht, daß man ihr widersprach, doch nun sprang Rolf Hartmann in die Bresche.
»Andere Völker hatten eben nicht nur einen Gott, sondern mehrere Götter. So beteten sie den Wind, die Sonne oder den Mond an.«
»Aber wir sind doch Christen.«
»Ja, das haben wir einem Missionar zu verdanken, dem heiligen Bonifatius. Er ist unter Axthieben gestorben. Es war ein schlimmer Tod, doch von seinem Glauben hat er nicht gelassen.«
Die Kinder waren beeindruckt, und auch Fräulein Haupt zeigte sich zufrieden. Allerdings ahnte sie nichts von dem, was sich bereits im Innern des Grabes abspielte.
Dort fühlte man sich gestört.
Die Toten waren wieder erwacht. Sie hatten Stimmen gehört, und sie rochen die Menschen.
Noch hielten sie sich zurück. Sie warteten und lauerten, denn Sadin hatte noch keinen Befehl gegeben.
Alle sollten sterben, die ihre Ruhe störten. Im Verlies der Angst würden sie ihr Leben
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