0109 - Verlies der Angst
Mensch.
Wenn auch in einer besonderen Verfassung.
Der Wahnsinn hatte die Frau befallen.
Sie war irre.
Die Lehrerin blieb zwei Schritte vor dem Grab stehen und streckte ihren rechten Arm aus, wobei sie die Finger wieder aneinanderlegte und die Hand eine normale Fläche bildete.
Dann begann sie zu sprechen, und ihre Worte jagten selbst dem Chinesen einen Schauer über den Rücken.
»Die Toten werden ihren Grüften entsteigen«, sagte sie mit hohler Stimme. »Ich habe sie gesehen. Ich habe sie in ihren Särgen gesehen und mit ihnen gesprochen. Sadin erscheint, und der große Rachekampf wird sich wiederholen.«
»Welcher Kampf?« fragte Suko.
»Die Geister der Wikinger und die der Germanen treten zum großen Duell an, und wer zwischen ihnen steht, der wird zermalmt. Endlich ist die Zeit da. Der Fluch des Sadin ist erfüllt, die Toten kommen zurück!«
Sie schaute Suko an und doch hindurch. Die Frau schien ihn nicht wahrzunehmen, ihr Geist war verwirrt, sie konnte nur von den Toten reden, sonst nichts anderes.
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging wieder zurück.
Suko befand sich in einer Zwickmühle. Was sollte er tun? Die Zeit war abgelaufen. Eigentlich hätte ich schon längst zurücksein müssen, aber wenn die Frau jetzt wieder in dem Grab verschwand, dann hatte Suko keinen mehr, an den er sich halten konnte.
Er konnte an der Schulter der Frau vorbeischauen und sah undeutlich eine zweite Gestalt im Eingang stehen.
Einen Mann!
War das vielleicht dieser Lehrer Hartmann? Hatte auch ihn der Wahnsinn gepackt?
Der Chinese dachte mit Schaudern daran, und er entschied sich dafür, der Frau zu folgen.
Sie machte keinerlei Anstalten, ihn aufzuhalten, ermunterte ihn allerdings auch nicht, sondern schritt ruhig weiter.
Suko quetschte sich durch den engen Spalt, wobei er seinen Bauch einziehen mußte. Nicht daß Suko dick oder gar fett war, sein Körper bestand eben nur aus zahlreichen Muskeln und Sehnen. Die Beretta hielt der Chinese nach wie vor schußbereit.
Zum erstenmal in seinem Leben betrat auch Suko ein vorchristliches Hügelgrab. Ihm erging es nicht anders als mir. Modrige Luft empfing ihn. Es war dunkel. Das Licht der Eingangsspalte versickerte bereits nach einem Schritt.
Suko knipste die Lampe an.
Viel Helligkeit gab die Punktleuchte auch nicht, doch man konnte sich orientieren.
Und Suko sah den Mann.
Er stand vor ihm und ging auch nicht zur Seite, als der Chinese auf ihn zutrat.
Wie ein Fels blieb er stehen.
Mein Freund hob den linken Arm und leuchtete dem Mann ins Gesicht. Es war ein noch junges Gesicht, und der Chinese war jetzt sicher, hier den Lehrer vor sich zu sehen.
Suko, sah es genau.
Dieser Mann war ebenfalls dem Wahnsinn verfallen. Das erkannte er an dem Ausdruck in seinen Augen.
Die Frau war schon vorgegangen, und da das menschliche Hindernis nicht aus dem Weg ging und Suko keinen Bogen machen wollte, stieß er den Lehrer mit dem Waffenlauf an.
Der erwachte wie aus einer langen Starre. »Die Toten«, sagte er, und so etwas wie Bewegung kam in seine Augen hinter der Brille.
»Die Toten sind bereit. Die große Schlacht muß geschlagen werden. Thor hat Sadin geschickt. Er wird kommen und mithelfen, die Germanenpest zu vernichten. Der Fluch ist erfüllt.«
Es waren fast die gleichen Worte, die auch die Frau gebraucht hatte. Suko stellte sich die berechtigte Frage, wer ihnen diese Sätze eingegeben haben könnte.
Thor? Oder Sadin?
Der Chinese war plötzlich gespannt darauf, diesen Wikingerdämon kennenzulernen.
Wieder stieß er den Mann mit der Waffenmündung an. Diesmal gehorchte der Lehrer.
Er drehte sich um und schritt ohne zu zögern hinter der alten Frau her.
Suko bildete das letzte Glied der Gruppe. Sie gingen tiefer in das Hügelgrab hinein.
Was würde sie erwarten?
Dann blieb die Frau stehen. Suko merkte es daran, daß auch der Mann stoppte und er fast gegen ihn gerannt wäre. Er leuchtete mit der kleinen Lampe vorbei und sah in dem dünnen Lichtstrahl soeben noch, wie der Oberkörper der Lehrerin in der Tiefe verschwand.
Suko senkte seine Hand, und er erkannte den Rand einer Grube, in die die Frau hineingeklettert war.
Rolf Hartmann wartete so lange, bis von seiner Kollegin nichts mehr zu sehen war, dann stieg auch er hinunter.
Suko war nicht so schnell. Er überzeugte sich erst, daß auch eine Leiter vorhanden war, die sein Gewicht hielt. Er nickte zufrieden, denn die Leiter bestand aus dicken Holzbohlen, die zwar ihre Jahre besaßen, aber doch ziemlich
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