011 - Das Mädchen in der Pestgrube
knallte seine Faust auf die Tischplatte, und mir war, als würde sie meinen Schädel treffen.
»Ab sofort siehst du dieses Mädchen nicht mehr!«
»Aber ich …«
»Keine Widerrede!« brüllte er und richtete sich drohend auf.
»Ich …«
»Es ist eine Schande«, tobte er und lief im Zimmer auf und ab. »Du bist mein einziger Sohn, und ich bin der beste Goldschmied der Stadt. Ein angesehener Bürger. Und du treibst dich mit zwielichtigen Gestalten herum und hast eine Liebschaft mit einem Stubenmädchen.« Erschöpft setzte er sich nieder und stierte mich böse an. »Außerdem verlassen wir heute nachmittag die Stadt«, fuhr er fort. »Die Pest greift rasend schnell um sich. Und du kommst mit.«
»Ich denke nicht daran«, sagte ich und sprang auf. »Ich lasse mich nicht länger wie ein kleines Kind bevormunden. Ich bin alt genug, um …«
»Du bist noch nicht trocken hinter den Ohren!« brüllte mein Vater.
Ich drehte mich um und schritt auf die Tür zu.
»Du hörst mir gefälligst zu!« brüllte er hinter mir her.
Ich wandte den Kopf herum.
»Du heiratest Hermi Spiegel«, sagte er. »Das ist schon lange beschlossen und …«
»Nie im Leben heirate ich diese Vogelscheuche«, keuchte ich wütend.
»Du wirst tun, was ich dir sage«, tobte er weiter. »Und wenn ich dich nochmals mit dieser Steffi sehe – diesem Flittchen, dann …«
»Nenn sie nicht Flittchen!« schrie ich zurück und spürte, wie meine Wangen rot wurden. »Sie ist ein anständiges Mädchen.«
»Daß ich nicht lache!« knurrte er. »Sie hat mit mehr als einem Dutzend Burschen ein Verhältnis gehabt. Das pfeifen ja die Spatzen von den Dächern.«
»Das ist eine infame Verleumdung!« schrie ich.
»Nimm endlich Vernunft an, Sohn!« bat er plötzlich sanft.
»Ich will Steffi heiraten«, sagte ich. »Ich liebe sie.«
Er schüttelte den Kopf. »Du bist übergeschnappt. Völlig wahnsinnig.«
Ich ging hinaus, schlug wütend die Tür hinter mir zu, stürmte die Treppe hoch, schlüpfte in meinen Rock und legte den Degen um. Dann setzte ich mir die Perücke und den Hut auf und lief die Stufen hinunter. Mein Vater versperrte mir den Weg.
»Wohin willst du?«
Ich preßte die Lippen zusammen.
»Du gehst zu dieser Schlampe, nicht wahr?«
Ich gab ihm keine Antwort.
»Verabschiede dich von ihr!« rief er. »Am Nachmittag fahren wir los. Und wenn du nicht bis Punkt zwei Uhr hier bist, dann ist dir mein Haus für immer versperrt. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.«
Ich nickte ihm zu.
»Das war ein deutliches Wort«, sagte ich grimmig.
»Überlege es dir gut, Sohn!«
Er gab mir den Weg frei, und ich schlich gesenkten Hauptes aus dem Haus.
Es herrschte das übliche Treiben auf der Straße. Frauen gingen einkaufen, Kinder liefen herum; noch merkte man nicht viel von der Pest. Es waren erst wenige Leute gestorben. Mißmutig bog ich in den Grünen Markt ein und wanderte weiter, bis ich den Stephansplatz erreichte. Ich betrat das Kaffeehaus zur Blauen Flasche, das von Georg Franz Kolschitaky vor einigen Jahren eröffnet worden war, trank Kaffee, aß Kuchen und blätterte dabei in den zwei Wiener Zeitungen: Wiener Blättl und Reichsblättl. Die Gespräche im Lokal drehten sich nur um die Pest.
Ein Leiterwagen wurde von Sträflingen am Kaffeehaus vorbeigezogen. Er war voll mit Pesttoten. Andere Sträflinge waren damit beschäftigt, auf dem Stephansfreithof eine große Grube auszuheben. Das stimmte mich nachdenklich. Wenn schon Pestgruben ausgehoben wurden, dann war die Situation doch sehr ernst. Ich dachte an die Auseinandersetzung mit meinem Vater – und an Steffi. Ich hatte sie vor drei Monaten in einem Wirtshaus getroffen und mich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Ich war verrückt nach ihr gewesen, doch sie hatte mich nicht erhören wollen. Es hatte ziemlich lange gedauert, bis sie endlich meinem Drängen nachgegeben hatte und meine Geliebte geworden war. Und jetzt sollte ich sie meinem Vater zuliebe aufgeben? Das kam nicht in Frage. Ich dachte nicht daran.
Um zehn Uhr verließ ich das Kaffeehaus und ging zum Hohen Markt. Neben dem Fischmarkt blieb ich stehen. Ich mußte nicht lange warten. Steffi trug einen knöchellangen grünen Rock. Das lange Haar war unter einer goldbraunen Haube versteckt. Sie lächelte schwach, als sie mich sah. Ich ging neben ihr her. Sie erledigte für ihre Herrschaften die Einkäufe, und dabei hatte ich Gelegenheit, kurz mit ihr zu sprechen.
»Du siehst
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