012 - Der Schatten des Vampirs
sich Felipe, ob er nicht geträumt hätte. Aber als er seine Gitarre aufhob, bemerkte er auf seiner Hand einen Blutstropfen. Er zitterte wie Espenlaub, doch seine Finger zupften wie mechanisch die Saiten. Die Zaubermelodie stieg in den Morgen.
Er spielte und spielte, lange Zeit. Er wiederholte den Refrain immer und immer wieder. Dabei fiel er in einen ähnlichen Dämmerzustand wie in der Hütte der Bruja, als die magischen Flammen ihn behext hatten.
Er zupfte die Saiten vor dem offenen Fenster, hinter dem das Liebespaar schlief, er spielte ohne Unterlass, bis Concha erschien.
Langsamen Schrittes trat sie unter die Tür. Er spielte weiter, denn die Bruja hatte ihm geraten, nicht aufzuhören, bevor das Opfer reagierte. Santiago blieb unsichtbar. Er hatte offenbar nichts gemerkt. Vielleicht war auch dies eine Folge der Zauberei.
Concha wirkte wie in Trance. Man sah, dass sie eilig aufgestanden war, denn sie war nachlässig angezogen, wie eine Frau, die nicht genau weiß, was sie tut.
Feierlich, fast wie ein Automat, schritt sie dahin. Felipe, der immer weiterspielte, hörte sie flüstern: „Felipe!“
Er seufzte, als die Geliebte seinen Namen aussprach. Aber er erkannte ihre Stimme fast nicht wieder. Concha war wie verwandelt. Sie wirkte wie eine Statue, eine wunderschöne Statue, aber nicht wie eine Frau aus Fleisch und Blut.
Er schlug noch ein paar Akkorde an. Sehr aufrecht, mit steifen Bewegungen, denen die gewohnte Anmut fehlte, ging sie am Fenster vorbei und kam auf ihn zu. Er sprach sie an, mit leiser, tiefer Stimme, die vor Begierde zitterte: „Concha, ich liebe dich. Ich will dich haben.“
Mit dumpfer Stimme antwortete ihm die junge Frau: „Ich gehöre dir, Felipe. Ich will dir gehören.“
Ein Schwindel erfasste ihn. Er wusste nichts mehr, hatte die Welt um sich vergessen. Hastig warf er sich die Gitarre über die Schulter und ergriff Concha mit beiden Armen. Sie ließ es geschehen, und er hob sie hoch. Er war stark, und ihr zierlicher Körper war leicht wie eine Feder. Er rannte mehr als er ging zwischen den Strohhütten hindurch, um seine Hütte zu erreichen.
In der Posada, in seinem Zimmer, warf Santiago sich im Bett herum. Er war schweißgebadet, sein Puls jagte, ein Alptraum quälte ihn. Es war ihm, als liege er gefesselt und ein Vampir kreise direkt über ihm, um sich auf ihn zu stürzen und sein Blut zu saugen. Der Seringueiro konnte sich trotz aller Anstrengung nicht befreien und blieb dem geflügelten Ungeheuer als Beute ausgeliefert. Ein Röcheln kam über seine Lippen. Schon glaubte er, seine letzte Stunde sei gekommen. Er konnte sich aus diesem schweren Traum nicht befreien und wachte nicht auf. So blieb ihm auch verborgen, dass seine Gefährtin verschwunden war.
Concha lag in Felipes Hütte und fror. Der erste Morgenschein tauchte alles in kaltes Licht, und sie zog sich in eine ungewohnte Passivität zurück. Dabei überschüttete Felipe sie mit Zärtlichkeiten, flüsterte ihr mit bebender Stimme das Versprechen ewiger Liebe und Glückseligkeit ins Ohr, wenn sie nur für immer bei ihm bliebe.
Sie richtete sich auf dem Bettrand auf und schien ihm ganz entrückt, obwohl sie keinerlei Widerstand leistete. Ob sie ihn überhaupt hörte? Sie war ihm schließlich aus freien Stücken gefolgt.
„Concha“, bettelte er. „Conchita mia, antworte mir doch.“
„Ich gehöre dir, Felipe“, sagte die junge Frau, aus der jedes Gefühl gewichen schien, mit spröder Stimme.
Felipe war außer sich. Seinem brennenden Verlangen antwortete hier totale Hingabe. Es gab keinen Widerstand. Nur dass Concha eher einem willenlosen Objekt glich als einer liebenden Frau. Er erinnerte sich der Worte der Hexe, Liebe sei nicht zu erzwingen. Aber sie war ja hier, an seiner Seite, genügte das nicht? Sie hatte das Bett ihres Geliebten verlassen, was wollte er mehr.
Er streichelte den makellosen Leib der Tänzerin, und eine innere Stimme zwang ihn, die Frage aller Liebenden zu stellen, deren Antwort den siebten Himmel öffnen kann – oder die Pforten der Hölle: „Conchita, sag mir noch mal, liebst du mich?“
Er streifte Conchitas bebende Lippen. Sie öffneten sich und erhörte: „Ich gehöre dir, Felipe, ganz und gar. Aber ich hasse dich auch, ja ich verwünsche dich. Eine starke Kraft stößt mich zu dir hin, und ich lechze nach deinen Zärtlichkeiten. Dennoch hasse ich dich!“
Mehrmals wiederholte Sie diese wütende Feststellung. Aber dadurch erwachte sie auch langsam zum Leben, war weniger frostig
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