012 - Der Schatten des Vampirs
ihn, überrollte ihn wie eine tödliche Woge. Zuerst versuchte er noch, seine Kleider auszuziehen und ihnen hinzuwerfen, denn er kannte die Tricks des Dschungels. Aber vielleicht war er schon zu schwach, um ihnen zuvorzukommen.
Felipe glaubte seine Schreie zu hören, sein Jammern, während die Ameisen ihn anbissen und bei lebendigem Leib auffraßen. Sie vollzogen das Todesurteil gegen einen Meuchelmörder.
Sicher, auch Santiago war ein harter Bursche, ohne viel Mitleid. Hatte er nicht auch Felipe grausam behandelt? Er war eben ein Mann der Weiden, der Campinas, wo das Leben die Seelen verhärtete. Und schließlich war Santiago ein Erbe der Inquisition. Er glaubte, ein gottgefälliges Werk zu verrichten, wenn er einen Menschen unnachsichtig verfolgte, der mit Hilfe von Hexerei eine Todsünde begangen hatte.
Felipe wusste, dass er sich nun eben dem Los unterwerfen musste, das er ganz allein herausgefordert hatte. Er hatte die vermaledeite Gitarre gespielt, die Santiago zertrümmert hatte.
Eine Gestalt erschien in der Türöffnung. Felipe blickte auf. Es war die „Mama“.
Sie kam nicht, um sich an seinem Unglück zu weiden, sondern nur um ihm zu sagen, dass trotz allem die „Limpia“
zu einem guten Ende geführt worden war, auch wenn er sie damals gestört hatte. Gut, Santiago war im Moment noch schlimm dran. Aber seine Wunde war nicht tödlich. In einigen Tagen würde er die Pflanzung für immer verlassen. Concha weigerte sich, noch weiter für die Seringueiros zu tanzen. Sie wollte mit Santiago gehen, um für immer bei ihm zu bleiben. Sie hatte ihre Ersparnisse mit dem bisschen Geld zusammengelegt, das er im Laufe der Zeit gespart hatte, und hatte im nächsten Flussdampfer zwei Plätze reservieren lassen. Sie würde ihn hinweg führen und ihm, solange noch eine schwarze Binde seine Augen verhüllte, eine treue Begleiterin sein. Ein Einbaum würde sie zum Amazonas bringen zu dem Schiff, mit dem sie fahren würden. Dort, so hatte der Arzt von der Nachbarpflanzung versichert, würde ein Augenarzt Santiago behandeln. Er hatte ihnen Hoffnung gemacht, dass Santiago nach einem Krankenhausaufenthalt von ein paar Wochen wieder sehen könnte.
„Ich weiß, was du den beiden alles angetan hast“, sagte die „Mama“. Und ich möchte, dass du zum Schluss noch erfährst, wie zwecklos alles gewesen ist. Denn sie lieben sich nun einmal, und dagegen kannst du nichts ausrichten. Du hast auch einmal dein Glück bei Concha versuchen können. Aber da du ein brutaler Mensch bist und immer zu viel getrunken hast, hast du sie nur unglücklich gemacht. Man muss die Spielregeln kennen und auch ein guter Verlierer sein. Du hast auf alle Fälle verloren, Felipe, durch Unglück, Verbrechen und Tod.“
Die „Mama“ hatte die Hütte wieder verlassen, und der Tag verging, der letzte Tag, den Felipe noch zu leben hatte.
Er hatte Schmerzen. Man hatte die Kugeln nicht aus seinem Körper entfernt, und sie machten ihm böse zu schaffen. Er hatte Fieber und roch nach Blut wie Santiago, der dadurch den Vampir angelockt hatte.
Aber der Vampir war ja tot.
Felipe schlief nicht einen Augenblick in der folgenden Nacht. Er dachte nach. Die Mücken tanzten um ihn herum, und er hatte weder den Mut noch die Kraft, sie zu jagen.
Zu spät sah er ein, dass es Wahnsinn war, mit der Hölle zu paktieren.
Die Hölle schickte sich an, ihr Opfer zu verschlingen, die verdammte Seele von Felipe, dem Narren.
Ein letztes Bild ging ihm durch den Kopf, als die Sterne schon anfingen zu erbleichen.
Es war das Bild eines jungen Paars. Eine junge Frau führte einen hochgewachsenen Mann an der Hand, der die Augen mit einer schwarzen Binde bedeckt hatte. Santiago und Goncha, meilenweit entfernt von Urwald und Dschungel, hatten sich durch ihre gegenseitige Liebe erlöst. Und ganz bestimmt hatten sie den Refrain des Zauberlieds der Bruja vergessen. Dieser Rhythmus, der sie bis in ihre Träume verfolgt hatte, würde sie nun nicht mehr quälen.
Und dann, zitternd vor Angst, sah Felipe nur noch eines: den Schatten eines Gehenkten, der zwischen den großen Bäumen baumelte …
ENDE
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