012 - Der Schatten des Vampirs
Conchas Nacken gleiten und sagte dabei fast unhörbar: „Du sollst von ihm befreit werden. Aber dann töte ich ihn.“
Es war die Stunde, in der die Menschen schliefen und der Urwald erwachte. Santiago irrte unter den Heveas der Pflanzung umher, weil er in dieser Nacht nicht schlafen konnte. Er wälzte Rachegedanken in seiner Brust und schwor, ohne Mitleid zuzuschlagen, wenn ihm erst erlaubt sein würde, sich Felipe vorzunehmen.
Die „Mama“ war aber sehr bestimmt gewesen in ihrer Forderung. Und wenn es nur in Conchas Interesse war – er durfte nichts unternehmen, bevor die junge Frau nicht befreit und der Bann gebrochen war. Eigentlich glaubte Santiago, dass es genügen würde, Felipe zu töten, um die Zauberbande zu zerreißen, in denen Concha gefangen war.
„Unglücklicher Tor“, hatte die „Mama“ gesagt. „Wenn du das tust, dann werden sie vereinigt bleiben, auch über den Tod hinaus. Erst müssen wir sie befreien, dann kannst du machen, was du willst.“
Die „Mama“ hatte entschieden, dass sie heute Nacht mir
Concha die „Limpia“ vollziehen wolle.
Die „Limpia“, das war eine reine Frauensache. Kein Mann hatte das Recht, dabei zu sein. Die „Mama“ rief alle Mädchen der Posada zusammen – und er, Santiago konnte seinen Ärger herunter schlucken und allein auf den Sonnenaufgang warten! Es war ihm einfach nicht möglich zu schlafen, wie ihm das die „Mama“ geraten hatte.
Er irrte durch die Nacht, dachte an Concha und das Los, das über sie verhängt war. Und an Felipe, den er vernichten wollte wie ein wildes Tier.
Die großen Bäume, die wie Soldaten in Reih’ und Glied standen, bluteten.
Alle waren angezapft von den Machadilas der Arbeiter. Das Latex floss langsam heraus in die hölzernen Gefäße, die man die ganze Nacht darunter hängen ließ. Untertags wurde dann das Latex mit Holzspachteln abgeschabt und zu Kugeln geformt, die man später erhitzen musste.
Santiago kannte die Pflanzung gut. Aber jetzt in der Nacht kam sie ihm vor wie eine andere Welt. Die leuchtenden Farben des Tages verwandelten sich in ein graues Einerlei. Doch traten hie und dort Reflexe auf: Weiß, Schwarz, Grau, Asche und Schatten, alles bewegte sich, wechselte, veränderte sich, schien Außergewöhnliches zu verheißen.
In dieser Nacht sollte also die „Limpia“ vollzogen werden, um Concha gegen das Zauberlied immun zu machen, sie von den magischen Banden zu befreien.
Santiago fühlte, wie feindlich der nahe Urwald war. Da drüben in dem kleinen Dorf war die Pflanzung, ein paar tausend Bäume auf ausgemergelter Erde, dem Urwald entrissen. Der Dschungel setzte sich dagegen ab wie ein Wall aus Pflanzen, ein wild verwobener Teppich, der im Dunkeln aufgehängt war.
Keine Farben mehr, nur noch Schatten. Santiago wanderte planlos unter den Heveas umher. Er spürte eine Art feindlicher Ausstrahlung, die sich wie abwehrend gegen ihn, gegen das Dorf, gegen alle Menschen, ausbreitete.
Scharfe und süße Gerüche stiegen auf. Das Gemisch reizte die Nase. Santiago fühlte, wie alles lebte, ein Kosmos von Millionen Pflanzen und Blumen, Tieren und Insekten. Das Gewimmel hauste in Sümpfen und Büschen, und über allem ragten Bäume empor, die eine gigantische Kathedrale mit hundert Meter hohen Säulen vortäuschten.
Ein Surren lag ununterbrochen in der Luft, als ob ein riesiger Dampfkessel brodelte, voll mit Elexieren des Teufels.
Santiago fühlte sich beklommen, nicht seinetwegen, sondern wegen Concha. Zwar vertraute er der „Mama“ völlig, aber schließlich war es keine Kleinigkeit, einen Zauber zu lösen. Die „Mama“ glaubte, dass Felipe sich an Bruja gewandt hatte, deren Ruf entsetzlich war. Dies alles vervielfachte die Gefahr, in der Concha schwebte.
Der Seringueiro wanderte weiter. Es war ihm, als spüre er zum ersten Mal, dass die Bäume der Pflanzung lebten und dass es ihr Blut war, das aus den Wunden tropfte. Die gierigen Arbeiter hatten sie ihnen zugefügt, um ihr bisschen Leben fristen zu können, in diesem Land des Todes und der wilden Schönheit. Da hinten im Dorf lag mehr als einer unheilbar krank und wartete auf das Boot, das ihn nach Manaos ins Hospital bringen würde, oder ganz einfach auf sein Ende. Wer Beri-Beri hatte oder Elephantiasis, um den kümmerte sich keiner, schon um sich nicht selber anzustecken.
Die großen Heveas klagten leise. Vielleicht war es auch nur der Wind, der durch die Blätter strich. Ein Stückchen Mond glitt langsam wie eine bleiche Larve vorüber.
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