012 - Der Schatten des Vampirs
Die Wunden der Bäume glitzerten. Santiago verfluchte seinen Beruf. Alle die Männer, die hier arbeiteten, kamen ihm wie Unmenschen vor. Man hatte doch nicht das Recht, die Bäume zu quälen. Es war eine Art ausgleichender Gerechtigkeit, dass die Peiniger dafür mit unheilbaren Krankheiten geschlagen wurden.
Die Nachtvögel kreischten irgendwo im Dschungel, der an die Pflanzung wie eine dunkle Brandung auflief. Santiago blieb stehen, der Schweiß lief ihm unter dem Hemd am Körper entlang.
„Jetzt bin ich schon so verrückt, dass ich mir einbilde, die Bäume leben!“
Er zuckte im Dunkeln mit den Achseln und machte sich über seine Ängstlichkeit lustig. Als er laut auflachte, erhob sich ein Wind. Sein Lachen hallte im Dschungel wider, und die Bäume klagten lauter.
Da bemerkte der Seringueiro, dass er Fieber hatte. Er dachte an Felipe und dessen. Gitarre, mit der dieser Concha an sich gezogen hatte. Und er, Santiago, lag solange in einem todähnlichen Schlaf und merkte nicht, wie in seiner Liebsten die Lust hochstieg, die sie doch bekämpfen wollte! Hätte er doch Concha zurückhalten können!
Er hielt es nicht mehr aus. Es war, als ob der Urwald auf ihn losginge. Die riesigen Pflanzen und die wilden Tiere verbanden sich in seiner Fantasie zu einem wahren Hexensabbat.
Er rannte Hals über Kopf ins Dorf, geradewegs auf die Posada zu.
Von weitem schon sah er einen roten Schimmer, der ihm freundlich zuwinkte. Er drang aus dem Lokal, wo sich – wie er wusste – keine Gäste aufhielten.
Auf dem Tisch, an dem sonst die Seringueiros tranken, lag eine nackte Frau ausgestreckt, bewegungslos. Um sie herum knieten die anderen Frauen aus der Posada. Alle waren verschleiert. Sie hielten in den Händen kleine Schalen mit Räucherwerk, das die „Mama“ zusammengestellt hatte.
Die Alte selbst zelebrierte diese seltsame Messe. Sie betete inbrünstig, dass die bösen Mächte Concha verlassen mögen.
Santiago näherte sich der Posada und wünschte von ganzem Herzen, dass die Reinigungsmesse Erfolg haben würde. Er stellte sich das Ritual vor, obwohl er als Mann natürlich nicht zugegen sein durfte. Was Concha wohl dabei dachte? Natürlich unterwarf sie sich der Prozedur nur, weil sie ihn liebte. Die „Limpia“ sollte ihre junge Liebe reinigen.
Ob sie auch an den elenden Felipe dachte, der diesen entsetzlichen Frevel begangen hatte, um sie in seine Gewalt zu bekommen? Santiago vergaß seine Wut und verzieh ihr in Gedanken die letzte Nacht. Er wusste jetzt, dass Concha schuldlos war.
Um das Ritual nicht zu stören, kehrte er wieder um und wanderte ruhelos umher. Er hörte noch immer die Bäume klagen, dass er sie mit seiner Machadila verwundet hatte. Am Rande des Urwalds hörte er wieder die nächtlichen Klagelaute, die ihm verkündeten, welches Drama sich im Innern abspielte. Er wurde sich bei jedem Schritt mehr bewusst, wie sehr er den Dschungel eigentlich hasste. So bald wie möglich wollte er mit Concha die Ufer des Amazonas verlassen und erst mit dem Einbaum und dann mit dem Flussdampfer nach Manaos fahren. Dort erst konnte man aufatmen.
Aber noch fehlte ihm das nötige Geld. Er besaß nur wenig. Noch einige Wochen, bis zum Abschluss der Ernte, dann würden sie beide endlich frei sein. Wenn nicht Krankheiten oder Zauberei sie inzwischen geschlagen hätten.
Santiago war stark und mutig. Aber nie vorher war er sich so hilflos, so ausgeliefert vorgekommen. Als er noch allein lebte, hätte er jedes Abenteuer, und sei es mit dem Teufel selbst, auf sich genommen. Jetzt, da er Concha hatte, war alles anders. Er fühlte sich für sie verantwortlich.
Wieder erblickte er von weitem das rötlich schimmernde Fenster der Posada. Seine Wünsche waren bei ihr, die sich der
„Limpia“ unterzog, um wieder frei zu werden.
Wie ein heidnisches Idol lag Concha ausgestreckt in der Mitte. Noch immer sangen die Frauen Litaneien, in denen christliche Gebete mit naiv abergläubischen Beschwörungen abwechselten.
In gebührendem Abstand, um ja nicht in Versuchung zu kommen, durch das Fenster zu schauen, trieb sich Santiago herum. Zum hundertsten Mal suchten seine Blicke das Fenster. Als er eine Silhouette an der Ecke der Posada wahrnahm, glaubte er, sich getäuscht zu haben. Er wusste, dass die „Mama“ alle Frauen aus dem Dorf in der Posada versammelt hatte – und die
Seringueiros schliefen längst, heute ohne Gefährtin. Der Schnaps und die harte Arbeit unter der prallen Sonne taten das ihre für einen tiefen Schlaf.
So nahm
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