0128 - Der Seelenwald
gewesen. Jeanette hatte eine Menge netter Leute kennengelernt. Und das nicht nur auf der Party. Auch auf dieser Schottland-Tour. Überall waren die Leute freundlich und zuvorkommend gewesen. Rauh, aber herzlich, wie Mel immer betonte.
Jeanette seufzte. Sie zog ihre langen Beine an und schlang ihre Arme darum. Den Kopf legte sie auf die Knie. So, wie sie jetzt am Feuer saß und hineinstarrte, wirkte sie wie ein kleines, verängstigtes Reh.
Sie war groß, schlank, ein Girl, das jeder Mann gerne und ausgiebig zweimal ansah. Die knapp sitzenden, ausgebleichten Jeans betonten die langen Beine. Das weite, buntkarierte Flanellhemd paßte dazu ganz hervorragend.
Ihr Gesicht war schmal, feingeschnitten, sanft. Die großen, ausdrucksvollen Augen blickten verträumt.
Irgendwo brach mit einem dumpfen Knacken ein Ast. Ein Käuzchen schrie klagend.
Jeanette zuckte zusammen.
Melanie Dorshire richtete sich abrupt auf.
»Nanni?« hauchte sie fragend.
»Ja?«
»Hast du das auch gehört?«
»Das Käuzchen?«
»Nein… Vorher. Dieses Atmen … oder Stöhnen …«
Jeanette sah ihre Freundin an. Melanies breites, gutmütiges Sommersprossengesicht war bleich und angespannt. Ein Zeichen dafür, daß sie sich keinen Spaß mit ihr erlaubte.
»Ich hab’s nicht gehört. Wirklich nicht«, flüsterte sie erschaudernd.
Melanie legte ihren Finger auf die Lippen. »Ich habe mich nicht getäuscht, ich schwöre es dir. Da hat jemand gestöhnt. Und dann knackte der Ast, und das Käuzchen schrie.«
Jeanette strich sich mit einer fahrigen Geste eine Strähne ihrer langen, braunen Haare aus dem Gesicht.
»Vielleicht…«
Weiter kam sie nicht.
Plötzlich sah sie die Bewegung! Nur ein paar Yards außerhalb des Lichtkreises!
Jemand kroch auf ihr Lager zu!
»Helft mir!« röchelte im selben Augenblick eine fürchterliche Stimme.
Die Bewegungen erstarben.
Jeanette federte hoch. Mit einem Griff hatte sie die Gaspistole aus ihrem Gürtel gezogen. Mit der Linken hielt sie die Stabtaschenlampe.
Eine Falle? Gefahr? Wollte man sie mit diesem Trick vom Feuer weglocken?
Viele aberwitzige Vermutungen purzelten durch ihren Verstand.
Sie schluckte trocken und ging los.
Dort draußen lag ein Mensch. Ein Mensch, der möglicherweise Hilfe brauchte…
»Was machst du denn?« keuchte Melanie. Sie starrte noch immer dorthin, wo vorhin die Bewegung zu erkennen gewesen war. Viel sehen konnte sie jetzt nicht mehr. Es war stockdunkel. Die hellen Flecke, die das Feuer um sich herum auf die Wiese schleuderte, reichten nicht so weit.
Jeanette bekämpfte die in ihr aufsteigende Angst. Ihrer Freundin gab sie keine Antwort. Angespannt schritt sie am Feuer vorbei. Sie nahm sich vor, beim geringsten Anzeichen von Gefahr zu schießen.
Vielleicht war ihnen jemand von Leyburn bis hierher gefolgt. Ihr Vater hatte ihr vor ihrer Abreise viel von der Schlechtigkeit gewisser Herren erzählt. Und sie hatte mit ihren 20 Jahren auch schon entsprechende Erfahrungen gesammelt.
Sie erreichte die Stelle und sah die zusammengekauerte Gestalt.
Der Lichtkegel der Taschenlampe geisterte über sie weg. Jeanette mußte sich brutal zusammenreißen, um nicht laut aufzuschreien.
Ein fürchterlicher Verwesungsgestank strömte von dem Mann aus. Verkrümmt, die Arme ausgestreckt, die Hände in die Erde gekrallt, mit dem Gesicht nach unten, lag er im nassen Gras.
Trotzdem sah Jeanette Bytow die blanken Knochen. Die Hände
…! Es waren Skeletthände!
Das Grauen schnürte ihr die Kehle ab! Eine teigige, nasse Krallenhand legte sich um ihr Herz und drückte langsam zu.
Aber sie schüttelte die Benommenheit tapfer ab. Sie durfte nicht hysterisch werden.
»Nanni…«
Das war Mels zaghafte Stimme. Jeanette hörte die Schritte hinter sich und spürte die beruhigende Nähe der Freundin.
»Erschrick nicht!« sagte sie tonlos.
Da bewegte sich das Skelett!
Jeanette zuckte zurück. Melanie schrie. Jetzt hatte sie die Knochenhände ebenfalls gesehen.
»Bitte…«, krächzte das Zerrbild eines Menschen. »Nicht erschrecken … Ich will euch nichts tun …« Die Stimme versiegte. Röchelnder Atem war zu hören.
Auf Jeanettes Rücken bildete sich eine Gänsehaut. Aber sie überwand sich. Sie beugte sich wieder vor, die Gaspistole nach wie vor in der Hand. Behutsam versuchte sie, den Mann zur Seite zu wälzen.
»Nanni! Bist du wahnsinnig!« schrie Melanie aus sicherer Entfernung. »Laß ihn liegen! Vielleicht ist die Krankheit, die ihn so zugerichtet hat, ansteckend!«
»Nicht…
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