0128 - Der Seelenwald
krank«, keuchte der Mann. »Ich sterbe. Ihr müßt mir zuhören … Wichtig!«
»Ich höre Ihnen zu, Mister«, flüsterte Jeanette, ohne nachzudenken. Alles in ihr hatte sich zusammengekrampft. Noch nie hatte sie einen Menschen sterben sehen, dazuhin noch so qualvoll. Sie konnte sich den schrecklichen Zustand des Mannes nicht erklären. Sie wußte nur, daß ihr von ihm keine Gefahr drohte. Und noch etwas wußte sie: Daß sie bei ihm bleiben und ihn anhören mußte.
»Gefahr…«, stieß er keuchend hervor. »Große Gefahr! Nicht mehr viel Zeit!«
Endlich gelang es Jeanette, ihn auf den Rücken zu drehen. Sein Gesicht sah schlimm aus. Das Gesicht einer Mumie. Schwarzbraune, runzelige Haut. Die Augen ruhten tief in den Höhlen. Ein fiebriger Glanz, überzog sie.
Die Kleider schlotterten um den Körper des Mannes.
»Bitte, reden Sie weiter«, forderte Jeanette flehend und zwang sich, ihr Entsetzen nicht zu deutlich zu zeigen.
Die Skeletthände zuckten. Speichel quoll über die rissigen, verschorften Lippen.
»Scotland Yard benachrichtigen. John Sinclair! Sie müssen John Sinclair warnen… Seelenwald … Jane Collins … Sie soll geopfert werden! Morgen! Ich …« Mit einem erstickten Laut verstummte Peter McCrady.
Der Zerfall griff vollends auf sein Gesicht über.
Jeanette Bytow sah, wie die Haut aufplatzte, sich zurückzog. Als würde ein unsichtbares Feuer sie verzehren…
»Danke«, flüsterte der Sterbende. »Danke! Gott schütze Sie!«
Haltlos fiel sein Kopf zur Seite.
Tränen glitzerten in Jeanettes Augen. Noch immer hielt sie den Kopf des Mannes auf ihren Knien. Ihre Finger krallten sich in den abgenutzten Stoff des Hemds.
»Ist er tot?« erkundigte sich Melanie vorsichtig und kam wieder näher.
»Ja. Ja, er ist tot.«
Jeanette erschrak über ihre rauhe Stimme.
Die Nachwirkungen des Grauens machten ihr zu schaffen. Dieser Mann war keines natürlichen Todes gestorben… Die Tränen perlten über Jeanettes bleiche Wangen.
Unendlich langsam und vorsichtig erhob sie sich und ließ den Fremden zu Boden gleiten. Leere Augenhöhlen glotzten sie an. Der Knochenschädel wirkte zerbrechlich.
»Wie kann so etwas nur möglich sein? Nanni, begreifst du das?«
»Ich weiß es doch auch nicht!« fuhr Jeanette Bytow ihre Freundin an. Verzweiflung zitterte in ihrer Stimme.
Ein kalter Wind umsäuselte sie. Das knöchelhohe Gras raschelte und duckte sich. Das Lagerfeuer, das zwischenzeitlich ziemlich weit heruntergebrannt war, flammte noch einmal auf.
Jeanette wischte sich über die brennenden Augen. »Wir müssen aufbrechen, Mel. Ins nächste Dorf, nach Peyspean…«
»Aber es ist drei Uhr morgens, Nanni!«
»Das ist doch egal! Ich muß Scotland Yard anrufen, Mel! Hörst du? Ich muß es tun. Es ist sein letzter Wille!«
Melanie nickte nur.
»Du hast ja recht. Ich hab’ die Nerven verloren, sorry. Komm…«
Sie nahm Jeanette bei der Hand und wollte sie mit sich ziehen.
Jeanette sah auf die reglose knochige Gestalt hinunter. »Wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen«, flüsterte sie erstickt.
»Doch, das können wir. Der Polizei wird es nämlich gar nicht gefallen, wenn wir am Tatort etwas verändern!« Melanie Dorshire hatte sich offenbar wieder gefangen und darauf besonnen, daß sie die ältere von ihnen war.
Vielleicht versuchte sie auch nur, ihre Unsicherheit zu verbergen, indem sie sich so burschikos und überlegen gab.
Und dann war da auch noch die Angst…
Als lauere ganz in der Nähe etwas furchtbar Fremdartiges…
Jenes Etwas, das diesen Unglücklichen getötet hatte.
Jeanette ließ sich von Melanie mitziehen.
Fünf Minuten später hatten die beiden Mädchen ihr Zelt abgebaut und auf dem Rücksitz des Jeeps verstaut. Das Feuer traten sie aus. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis auch die letzten rot wabernden Glutfetzen erloschen waren.
Daraufhin fuhren sie los.
In der Ferne wetterleuchtete es unheilvoll.
***
»Vernichtet?« zischte Murthoom ungläubig und starrte Asmodinas Todesengel an. »Der ganze Zirkel vernichtet?«
Die rothaarige Dämonin in der knappsitzenden schwarzen Lederkleidung lächelte böse. »Du hast dich nicht verhört, Freund. Unsere Herrin war gezwungen, rücksichtslos durchzugreifen.«
»Ja, ja, das hast du mir ja gerade erzählt. Aber das Projekt… Der Ableger des Seelenwaldes in London …«
»Ist vorerst gestorben. Wir werden es zu einem späteren Zeitpunkt neu angehen. Zu einem Zeitpunkt, da feststeht, daß es erfolgreich ist.«
Murthoom
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