0138 - Uns stand das Wasser bis zum Hals
gekommen waren, aber natürlich konnte ich nicht genau wissen, woher. Ich tappte also eine Weile im Hof umher und rief auch gelegentlich.«
»Was riefen Sie denn?«
»Ob jemand in der Nähe sei, ob jemand verletzt sei und so ähnlich. Aber ich bekam keine Antwort. Einmal hörte ich aber ganz deutlich Schritte, die vom Hause nach vorn zur Straße eilten.«
»Eilten? Also schnelle Schritte?«
»Ja.«
»Fiel Ihnen das nicht auf?«
»Doch. Selbstverständlich. Ich rief den Schritten nach, aber sie entfernten sich, ohne dass ihr Urheber meinem Ruf Beachtung geschenkt hätte. Da suchte ich weiter im Hof umher.«
»Was suchten Sie eigentlich?«
Der Blinde hob überrascht den Kopf.
Einen Augenblick überlegte er, dann fuhr er fort: »Ich suchte die Ursache der Schüsse. Wo geschossen wird, da muss jemand sein, der es tut, und es muss irgendwer oder irgendetwas das Ziel abgeben. Es waren Pistolenschüsse, das hatte ich deutlich gehört. Ich bin im Zweiten Weltkrieg Soldat gewesen, ich kenne mich aus mit dem Geräusch der verschiedenen Schusswaffen.«
»Ich verstehe«, nickte ich. »Berichten Sie nur weiter!«
»Ich fand im Hof nichts, wie ich schon sagte. Da ging ich einmal rund um das Gebäude, in dem wir jetzt sitzen. Ich tastete mich immer an der Hauswand entlang. Ehrlich gesagt, ich hatte Verdacht geschöpft. Zuerst Schüsse und dann eilig sich entfernende Schritte - das konnte nichts Gutes bedeuten.«
»Richtig«, sagte ich. »Das FBI wäre froh, wenn alle Zeitgenossen so folgerichtig handelten, wenn in ihrer Nähe ein Verbrechen geschieht. Sie gingen also einmal rund um das Haus. Und dabei?«
»Dabei hörte ich von unten her plötzlich ein leichtes Stöhnen. Es kam aus einem Kellerfenster, das zerbrochen war. Meine Hände erzählten mir diesen Sachverhalt, als ich die Hauswand abtastete. Ich rief nach unten, ob da jemand sei, ob ich hinunterkommen sollte, aber die Antwort bestand nur aus einem ganz schwachen Röcheln. Well, da suchte ich den Eingang zu diesem Gebäude. Ich fand ihn, kam in einen Flur und tastete die Wände ab, bis ich eine Tür gefunden hatte, die halb offenstand. Dahinter führte eine Treppe abwärts. Es musste die Kellertreppe sein. Ich stieg vorsichtig hinunter. Ein paar Mal stieß ich gegen etwas, nach meiner Ansicht muss allerlei Zeug auf der Treppe stehen.«
»Allerlei Zeug ist gut«, sagte Phil. »Die Treppe ist ein halber Trödlerladen.«
»Sehen Sie!«, rief der Blinde aus. »Ich dachte es mir doch. Jedenfalls kam ich nach einiger Zeit unten an und hatte wieder zu tun, bis ich den richtigen Raum gefunden hatte. Wenn man blind ist, achtet man mehr auf Entfernungen und auf die Verhältnisse einer Örtlichkeit, als es jemand tut, dem seine Augen diesen Dienst erweisen. Ich wusste, dass der Raum, aus dem ich das Röcheln gehört hatte, etwa zwölf Schritte von der Hausecke entfernt sein musste. Davon war die Anzahl der Schritte abzuziehen, die von der Haustür bis zur Kellertür führten. Und dann musste die Länge der Treppe berücksichtigt werden.«
»Ein schwieriges Unternehmen, was?«, fragte ich.
Der Blinde lächelte.
»O nein. Wenn man daran gewöhnt ist, gehen einem solche Rechnungen in Fleisch und Blut über. Man bekommt fast einen sechsten Sinn für Entfernungen.«
»Sie fanden jedenfalls die richtige Tür?«
»Ja. Sie stand wieder offen, genau wie oben die Kellertür. Ich rief hinein, bekam aber keine Antwort.- Ich wusste aber, dass jemand im Raum sein musste.«
»Woher wussten sie es?«, wollte Phil wissen.
Der Blinde zuckte die Achseln.
»Woher? Das kann ich nicht sagen. Ich wusste es einfach. Ich fühlte es. Ich weiß immer, wenn ich einen fremden Raum betrete, ob jemand darin ist oder nicht. Ich fühle das.«
Der Blinde lauschte eine Weile dem Klang seiner Worte nach, dann sagte er plötzlich: »Er war tot. Ich fühlte es an seinem Hals.«
»An seinem Hals?«, wiederholte ich verdutzt.
»Ja. Es gibt keine Stelle, wo der Pulsschlag so deutlich zu spüren ist wie an der Halsschlagader, wenn Sie die genaue Stelle kennen. Ich fühlte, dass kein Puls mehr vorhanden war. Er musste tot sein. Da suchte ich mir den Weg wieder hinaus und ging auf die Straße. Ich stellte mich einfach auf den Bürgersteig und sagte ein paar Mal: ›Bitte, wer führt mich zu einem Telefon?‹ Eine Frau geleitete mich in einen Lebensmittelladen. Von dort aus rief ich die Polizei an.«
»Die Stadtpolizei?«, fragte ich.
»Nein. Das FBI. Ich bat darum, mir die Nummer des FBI zu
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