016 - Herrin der Woelfe
angenehmer Gedanke bei diesen Bestien und dem wenig vertrauenerweckenden Alten.
Ihr Blick schweifte zu einem zweiten Lehnstuhl, der jenseits des niedrigen Tisches stand, mit der Lehne zum Fenster. Erneut erschrak sie.
Jemand saß in dem anderen Stuhl. Es war nicht der Alte. Der Mann musterte sie ungeniert wie der Wolf. War es Woiew?
Er nickte ihr zu, als er sah, dass sie ihn entdeckt hatte.
»Guten Tag«, sagte er mit angenehm tiefer Stimme.
»Verzeihen Sie, dass ich Sie beobachtet habe. Aber ich wollte Sie nicht wecken.«
»Wie lange sitzen Sie schon hier?« fragte sie atemlos.
»Minuten – Stunden.« Er hob die Schultern. »Was bedeutet Zeit schon?«
»Sind Sie – Woiew?« fragte sie zögernd.
Er nickte zustimmend. »Darf ich Ihren Namen erfahren?«
»Thania Lemar«, sagte sie rasch. »Ich muss mich entschuldigen, dass ich hier so einfach eingedrungen bin.«
»Das ist erstaunlich genug, um es zu verzeihen«, entgegnete er.
Er erhob sich, und nun im Licht erkannte das Mädchen, dass Dr. Weißers Beschreibung stimmte. Woiew war ein interessanter Mann. Seine fünfunddreißig Jahre sah man ihm nicht an.
Er wirkte jünger. Ein östlicher Zug lag um seine Augen- und Wangenpartie und kündete von dem asiatischen Blut in seinen Adern. Das dichte, schwarze, lockige Haar verlieh ihm etwas Zigeunerhaftes. Er trug Jeans und ein T-Shirt, und seine nackten Arme waren dunkel von Sonne und Wind.
»Alexis hat mir Erstaunliches berichtet von Ihnen und Cuon«, fuhr er fort.
»Der alte Mann, dem ich …«
»Mein Diener«, erklärte er. »Sie haben geträumt bevor Sie erwachten, nicht wahr?«
Thania nickte zögernd.
»Können Sie sich an den Traum erinnern?« fragte er interessiert.
»Nur zu gut«, entfuhr es ihr, und dann ruhiger: »Es ist immer der gleiche Traum. Ich wache auf, bevor er zu Ende ist.«
Er musterte sie eine Weile stumm.
»Schickt Sie jemand, Fräulein Lemar?« fragte er schließlich.
Sie zögerte. »Ja. Aber …«
»Wer?«
»Ich – ich bin freie Mitarbeiterin der Abendpresse. Aber …«
»Von der Zeitung!« zischte er wütend, und sie glaubte auch Enttäuschung in seiner Stimme zu hören.
»Bitte, hören Sie mich an!« bat sie. »Mein Auftrag ist nicht der … wichtigste Grund, warum ich hier bin. Bitte!«
Er betrachtete sie misstrauisch, aber offenbar gewillt, sie anzuhören.
»Es sind diese Träume«, fuhr sie rasch fort.
»Und dieser Wolf …«
»Ein Wolf?« fragte er interessiert.
»Ein weißer. Ich sehe ihn nicht immer. Meist höre ich nur sein Knurren und Heulen. Manchmal nicht einmal das. Aber ich weiß, dass er da ist und dass gleich das Blut kommen wird, dass alles rot werden wird.« Sie schüttelte sich und brach ab.
Als er nichts erwiderte, fügte sie hinzu: »Ich dachte, vielleicht können Sie mir helfen, dass dieser Alptraum nicht wiederkommt. Sie und Ihre Wölfe …«
Er schwieg, und sie senkte beschämt den Blick.
»Etwas an Ihnen ist seltsam«, stellte er schließlich fest.
»Nein – faszinierend. Ob ich Ihnen helfen kann?«
Er hob die Schultern.
»Wir sprechen nachher beim Essen weiter darüber. Sie sind selbstverständlich mein Gast. Aber Sie werden gestatten müssen, dass ich entscheide, wie lange Sie hier verweilen.«
Es lag eine vage Drohung in seinen Worten, trotz seines Lächelns. Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern streckte ihr eine Hand entgegen.
»Kommen Sie! Ich muss mich jetzt um meine Freunde kümmern. Das wird Sie sicher interessieren.«
Als sie hinaus zu den Gehegen gingen, gesellte sich Alexis noch zu ihnen. Er sagte nichts, weder ein freundliches noch ein unfreundliches Wort. Auch Cuon und seine grauen Gefährten vom Hof kamen mit.
Aus einem der Nebengebäude, offenbar einem Kühlhaus, holte Alexis einen Karren voll Fleisch, ein gewaltiges Stück eines Rindes. Der Anblick des blutigen Fleisches verursachte Thania würgende Übelkeit. Sie fühlte sich unmittelbar an ihren Traum erinnert.
Das Fleisch wurde in einen der größeren leeren Zwinger gebracht. In den Gehegen ringsum wurde es lebendig. Zu zweien und dreien kamen sie heran und warteten ungeduldig hinter dem Gitter des Zaunes.
Thania zählte elf Tiere, und selbst für ihren Laienblick war es erkennbar, dass sie verschiedenen Rassen angehörten.
Während Alexis das Futter in den Fresszwinger schaffte, begab sich Woiew in die einzelnen Gehege, wo die Wölfe ihn ausnahmslos freudig begrüßten. Die Tiere liefen nacheinander, ohne sich wild zu gebärden, in den Futterkäfig. Auch
Weitere Kostenlose Bücher