016 - Herrin der Woelfe
stärksten und klügsten, dem es gehorcht.«
»Das ist sicher Cuon«, warf Thania ein.
Sein Lächeln vertiefte sich.
»Das bin ich«, sagte er.
»Sie?«
»Ich bin der stärkste und klügste Wolf für die Tiere. Ich bringe ihnen das Futter und ich bewahre sie vor dem Tod. Ich kämpfe für sie. Ich bin ein Wolf.«
So leidenschaftlich klangen diese Worte, dass Thania unwillkürlich schauderte. In seinen Augen war etwas, das sie an Cuon erinnerte. Seine Züge kamen ihr plötzlich wölfisch vor. Sein Benehmen machte ihr Angst. Aber im nächsten Augenblick schwand die heftige Emotion aus seinen Zügen.
»Sie müssen mir verzeihen«, sagte er ruhig, »wenn manchmal das Temperament mit mir durchgeht. Ich habe mein ganzes Leben unter Wölfen verbracht. Ich fühle beinahe wie sie. Aber jetzt berichten Sie mir von Ihrem Wolf.«
Die Sattheit und der schwere, blutrote Wein hatten sie träge gemacht. Sie schob alle Ängste beiseite, und ihr war, als ob alles, was sie heute erlebt hatte, ein anderes Wesen in ihr berauschte. Fast fühlte sie sich wie im Traum; aber es war ein guter Traum, ohne Blut.
»Wo soll ich beginnen?« fragte sie hilflos.
»Wo Sie wollen. Sprechen Sie, wie es Ihnen in den Sinn kommt. Ich bin ein aufmerksamer Zuhörer.«
Er sah sie auffordernd an.
Thania Lemar lehnte sich zurück und nippte erneut an ihrem Wein.
»Ich habe diese Träume, solange ich mich zurückerinnern kann. Sie waren immer sehr deutlich, sehr realistisch – und doch nie deutlich genug. Mein Psychiater sagt … dass ich krank bin.« Als er keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Es ist immer derselbe Traum. Erst tauchen kurz einzelne Bilder auf – dann verdichten sie sich. Aber das Wichtigste fehlt immer: der Sinn, die Erklärung.«
»Wovon träumen Sie?«
»Von – Blut«, sagte sie stockend. »Immer von Blut. Ich – gehe durch eine Straße. In einem weißen Kleid. Immer in einem weißen Kleid. Ich sehe Blut. Es spritzt und beschmiert alles. Ich laufe. Das Herz schlägt mir bis in den Hals hoch.
Mein schönes weißes Kleid ist über und über voll Blut. Dann wache ich auf.«
Woiew blickte sie nachdenklich an.
»Blut ist sehr schwierig zu deuten«, meinte er. »Es bedeutet sowohl Leben als auch Tod. Es ist ein Symbol für das Geborenwerden und das Sterben. Woher stammt es?«
Er lehnte sich interessiert vor.
»Von Leichen!« antwortete das Mädchen bleich. »Von grässlich verstümmelten Leichen, die im Straßenschmutz liegen. Ich sehe sie Gott sei Dank nicht immer. Nur manchmal.
Ihr Anblick ist am unerträglichsten.«
»Immer dieselben Leichen?« fragte er.
Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Immer andere. Fremde.
Keines der Gesichter kam mir je bekannt vor.«
»Was ist mit dem Wolf?« fragte er fast ein wenig ungeduldig.
»Er ist immer da. Ich spüre seine Anwesenheit, sofern man im Traum überhaupt etwas spüren kann. Und manchmal höre ich ihn auch, sein Knurren – sein bestialisches Knurren.«
»Wie sieht er aus?« fragte Woiew gespannt.
Sie hob die Schultern. »Ich habe ihn niemals gesehen.«
Erstaunt sah er sie an. »Sagten Sie nicht er wäre weiß?«
Sie nickte zustimmend. »Er ist weiß.«
»Aber wenn Sie ihn niemals gesehen haben …«
»Ich bin ganz sicher, dass er weiß ist«, erklärte sie bestimmt.
»Ich weiß es einfach.«
Sie bemerkte erleichtert, dass er sich mit der Erklärung zufrieden gab.
»Da ist noch etwas, dessen ich mir sicher bin, obwohl ich es im Traum nie sehe«, fuhr sie stockend fort. »Dieser Wolf ist der Mörder. Die Leichen sehen alle so aus, als ob sie von einem wilden Tier zerrissen …«
Er nickt. »Das ist logische Schlussfolgerung.«
»Vielleicht«, sagte sie.
Sie schwiegen beide eine Weile. Schließlich fragte er: »Was ist es, das Sie am meisten an Ihrem Traum entsetzt?«
Sie dachte eine Weile nach und sagte dann zögernd: »Dass mein Kleid voll Blut ist, so warm und feucht und klebrig.«
Sie schüttelte sich.
Wieder schwieg er, und als er erneut sprach, dachte sie enttäuscht, dass er wie ihr Psychiater zu ihr redete.
»Könnte der Traum auf irgendein früheres Erlebnis zurückgehen?«
Seufzend erwiderte sie: »Ich dachte mir schon, dass Sie das fragen würden, und das bedeutet wohl, dass Sie mir auch nicht mehr helfen können als mein Psychiater. Ja, ich hatte ein solches Erlebnis, aber ich empfinde kein Schuldgefühl. Ich sah wohl zu, aber ich hätte es niemals verhindern können.«
»Was?«
»Als ich sieben war, gingen wir in den Zoo – ich, mein Vater,
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