017 - Der Engel des Schreckens
Unschuld und Reinheit in dem Gesicht einer Frau gesehen habe, dann in diesem hier.«
»Sie sind zuviel in der Sonne gewesen, Sir John - fangen an, elegisch zu werden«, erwiderte Jack Glover grob, und der Anwalt hustete entrüstet.
Jack Glover hatte eine eigene Art, seinen Freunden Liebenswürdigkeiten zu sagen, selbst wenn diese Freunde zwanzig Jahre älter waren und allen Anspruch auf respektvolle Behandlung hatten.
»Wissen Sie, Glover«, sagte Sir John beleidigt, »manchmal sind Sie wirklich unmöglich.«
Aber Jack Glover war schon seiner Wege gegangen, die Hände in den Taschen und den Hut in den Nacken geschoben.
Der grauhaarige Mitinhaber der Firma Renneu, Glover & Simpson - einen Simpson gab es schon seit zehn Jahren nicht mehr - war im Begriff, das Büro zu verlassen, setzte sich aber wieder, als sein jüngerer Teilhaber erschien.
»Ich habe das Resultat schon durchs Telefon erfahren«, begann er. »Ellbery sagt, Berufung werde unmöglich sein. Das Gnadengesuch wird ja höchstwahrscheinlich bewilligt werden - es ist ja doch schließlich eine crime passioneile -, und wegen mörderischer Eifersucht wird man noch nicht gehängt. Die Aussage des Mädels hat ihm den Rest gegeben?«
Jack nickte.
»Und sie sah aus wie ein Engel - frisch aus dem Eisschrank«, rief er verzweifelt. »Ellbery hat ja alles Mögliche getan, um sie in Widersprüche zu verwickeln, aber der alte Narr ist ja auch schon in sie verliebt - als ich ihn verließ, schwärmte er von ihrer reinen Seele und ihren anderen, himmlischen Eigenschaften.«
»Sie hat eben gewonnen«, sagte Mr. Rennett. Aber Glover fuhr wütend auf.
»Noch nicht. Ehe nicht Jim Meredith tot oder -«
»Oder -«, wiederholte der alte Herr bedeutungsvoll. »Von dem ›Oder‹ wollen wir lieber nicht sprechen, Jack. Er bekommt so sicher lebenslänglich, wie zwei mal zwei vier ist. Aber ich würde, weiß Gott, viel tun, um Jimmy zu helfen - ich würde sogar Geschäft und Ansehen aufs Spiel setzen!«
Jack Glover sah ihn verblüfft an.
»Großartig!« sagte er bewundernd. »Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie soviel für Jimmy übrighaben.«
Mr. Rennett stand auf und zog sich die Handschuhe an. Das Erstaunen, das er hervorgerufen hatte, schien ihm nicht sehr angenehm zu sein.
»Sein Vater war mein erster Klient«, es klang beinahe entschuldigend. »Einer der besten Menschen, die je gelebt haben. Hatte erst spät geheiratet. Man kann ruhig sagen, daß der alte Meredith unsere Firma gerettet hat. Sehen Sie, Simpson und ich waren beinahe erledigt, als Meredith uns seine Vertretung übertrug. Das war dann der Wendepunkt. Ihr Vater, Jack, konnte wieder und immer wieder vom alten Meredith erzählen. Ich wundere mich eigentlich, daß er darüber nie zu Ihnen gesprochen hat.«
»Ich glaube, ich kann mich noch daran erinnern«, sagte Jack nachdenklich. »Und Sie würden wirklich alles tun, um Jimmy zu helfen?«
»Alles!« sagte der alte Rennett kurz.
Jack Glover pfiff laut und unmelodisch vor sich hin.
»Ich sehe ihn morgen. Haben Sie übrigens gelesen, Rennett, daß kürzlich ein Mann aus dem Gefängnis in ein Privatkrankenhaus entlassen wurde, um sich einer kleinen Operation zu unterziehen? Im Parlament ist sogar deswegen interpelliert worden. Ist das eigentlich gebräuchlich?«
»Das läßt sich natürlich machen«, antwortete der alte Herr. »Warum ?«
»Halten Sie es für möglich, daß wir Jim Meredith in einigen Monaten in ein Krankenhaus bringen können zu einer - sagen wir: Blinddarmoperation ?« »Leidet er denn an Blinddarmentzündung?« fragte Rennett überrascht.
»Weiß ich nicht - aber er kann doch so tun«, versetzte Jack ruhig.
Rennett blickte unter seinen buschigen Augenbrauen hervor auf den jungen Mann. »Ach so - Sie dachten an das ›Oder‹?«
Jack nickte.
»Es läßt sich machen - wenn er am Leben ist«, sagte nach kurzem Schweigen Rennett.
»Er wird leben«, prophezeite sein Teilhaber. »Aber die Hauptsache - wo soll ich das Mädel finden?«
Kapitel 2
Lydia Beale nahm die Papiere auf, die ihren Schreibtisch bedeckten, ballte sie zusammen und warf sie in das Kaminfeuer.
Es klopfte, und sie wandte sich lächelnd ihrer rundlichen Wirtin zu, die auf einem Tablett eine große Tasse Tee, zwei dicke Scheiben Brot, Butter und Marmelade hereinbrachte.
»Fertig, Miss Beale?« frage die Wirtin besorgt.
»Für heute, ja.« Das junge Mädchen stand auf und reckte die steifgewordenen Glieder.
Sie war beinahe einen Kopf größer als Mrs. Morgan.
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