017 - Der Engel des Schreckens
Hause!«
»Haben sie keinen Namen genannt?«
»Nein, Miss. Sie haben nur gefragt, ob Miss Beale hier wohne und zu sprechen sei.«
»Hm«, Lydia zog die Brauen zusammen. »Ich möchte wissen, wieviel ich denen wieder schuldig bin.«
Sie dachte nicht weiter daran, bis sie auf dem Weg ins Theater in der Redaktion anrief und von dem Schriftleiter ihrer Abteilung erfuhr, daß nach ihr gefragt worden sei.
»Alte Freunde von Ihnen, wie es scheint. Ich war nicht da, und Brand sagte ihnen, Sie seien heute abend im Erving-Theater. Wahrscheinlich werden Sie sie dort finden.«
»Aber wer war es denn?« - fragte sie.
»Keine blasse Ahnung«, war die Antwort.
Im Theater sah sie keinen Bekannten, wie neugierig sie auch um sich blickte. In den Pausen wurde sie auch von niemand angesprochen.
In der Reihe vor ihr, etwas nach rechts, saßen zwei Personen, die Lydia genau beobachteten, als sie hereinkam. Der Mann war Mitte Fünfzig, kahlköpfig und sehr dunkel - sein Gesicht hatte beinahe Kupferfarbe, obwohl er sicherlich Europäer war. Blaue Augen blickten wohlwollend durch starke Brillengläser, aber das Blau war so hell, daß der Kontrast zum Rot des glattrasierten Gesichtes es beinahe weiß erscheinen ließ.
Das junge Mädchen an seiner Seite war - auch für die kritischen Augen Lydias - von auffallender Schönheit. Ihr volles Haar schimmerte wie gesponnenes Gold. Es war nicht gefärbt, wie Lydia sofort feststellte. Ihre Gesichtszüge waren von seltener Ebenmäßigkeit. Die junge Zeichnerin glaubte niemals so wundervoll geschwungene Lippen gesehen zu haben. Auf der ganzen Erscheinung lag eine solche Frische und natürliche Unschuld, daß Lydias Herz sich sogleich der schönen Unbekannten zuwandte und sie den Vorgängen auf der Bühne kaum folgen konnte. Das junge Mädchen schien übrigens ein ähnliches Interesse für sie selbst zu empfinden, denn Lydia überraschte sie, wie sie sich zweimal nach ihr umwandte.
Wer konnte sie wohl sein? Sie war mit erlesenem Geschmack gekleidet und trug eine kostbare Platinkette mit Smaragden.
Es bedurfte einer wirklichen Anstrengung, um Lydias Gedanken zur Bühne zurück und an ihre Arbeit zu bringen. Mit wenigen, geschickten Strichen skizzierte sie die Kostüme und vergaß im Augenblick die bezaubernde Fremde.
Nach Schluß der Vorstellung betrat sie das Vestibül und zog den abgetragenen Mantel dichter über ihre zarten Schultern. Die Nacht war rauh, und ein scharfer Westwind trieb die dicken, weißen Schneeflocken bis in die große Halle. Die glücklicheren Theaterbesucher schritten über die schmutzige Straße und stiegen in die wartenden Wagen; dann fuhren die Taxis in endloser Reihe vor - ein Türenzuschlagen, ein Stimmendurcheinander, bis sich die Menge schließlich zerstreut hatte. »Taxi, Miss?«
Lydia schüttelte den Kopf. Der Bus war gut genug für Sie, aber schon zwei waren vollbesetzt an ihr vorbeigefahren, und sie begann ungeduldig zu werden. Jetzt fuhr ein besonders elegantes Taxi an den Bürgersteig heran.
Der Chauffeur beugte sich aus dem Wagen und rief: »Ist Miss Beale hier?«
Das junge Mädchen fuhr überrascht zusammen und ging auf den Wagen zu.
»Ich bin Miss Beale.«
»Ich komme von Ihrem Verlag.«
Der Leiter des ›Megaphone‹ hatte sich schon verschiedene Extravaganzen geleistet. Er hatte über ihre Zeichnungen Ansichten zum besten gegeben, bei deren Erinnerung sie heute noch schauderte. Mitten in der Nacht hatte er sie wecken lassen, um sie als Zeichnerin auf einen Maskenball zu beordern. Aber noch niemals hatte er sich so aufmerksam gezeigt, ihr ein Taxi zu schicken. Trotzdem überlegte sie nicht lange, sondern stieg ein.
Die Scheiben waren mit halbgeschmolzenem Schnee bedeckt, der schon seit Stunden fiel. Undeutlich sah sie die Straßenlichter an sich vorbeihuschen - der Wagen mußte sehr schnell fahren. Sie rieb mit ihrem Handschuh die Scheibe, versuchte hinauszublicken und wollte das Fenster herunterlassen. Es ließ sich nicht bewegen. Jetzt sprang sie auf und klopfte zornig an die vordere Scheibe, um die Aufmerksamkeit des Chauffeurs auf sich zu lenken. Sie hatte sich nicht geirrt, als sie glaubte, über eine Brücke zu fahren, aber - nach der Fleet Street kam man über keine Brücke.
Wenn der Chauffeur auch ihr Klopfen hörte, so beachtete er es doch nicht. Wütend klopfte sie von neuem gegen die Scheibe, sie war nicht ängstlich, aber über alle Maßen empört. Und auf einmal kam die Angst. Sie kam, als sie den Wagenschlag zu öffnen versuchte
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