0191 - Fenris, der Götterwolf
würde, wie ich sie kannte. Ob ich wollte oder nicht, meine Augen wurden feucht. Vom Magen her stieg der Kloß in die Kehle und dann noch weiter.
Es war schlimm für mich…
Dann wurde der Sarg in das offene Grab gelassen. Die Männer benötigten zwei Seile. Wir schauten zu, wie er langsam in der Erde verschwand.
Ich wischte mir über die Augen.
Noch einmal trat der Pfarrer an den Rand des Grabes, nahm seinen Weihwassersprenger, und glitzernde Tropfen fielen auf das Holz. Der Geistliche sprach ein letztes kurzes Gebet. Es wurde von keinem Jaulen oder Knurren unterbrochen.
Dann war die Reihe an uns, dicht an das Grab heranzutreten und Blumen sowie Erde auf den Sarg zu werfen.
Emily Berger machte den Anfang. Sie schluchzte, als ein gelber Rosenstrauß auf den Sarg fiel. Ich war zur Seite gegangen, um den Spaten zu holen, der im Lehmhügel steckte. Suko stützte die Tante der Toten.
Etwa eine halbe Minute standen die beiden dort. Emily Berger weinte und flüsterte Worte, die ich nicht verstand. Dann war ich an der Reihe, häufte Lehm auf den Spaten und ließ ihn vom blanken Blatt in die Tiefe rutschen.
Es polterte dumpf, als der Lehm auf den Sargdeckel fiel. Eigentlich hatte ich etwas sagen wollen, letzte Abschiedsworte, aber ich brachte keinen Ton über die Lippen. Stumm stand ich da, und der Sarg verschwamm vor meinen Augen.
Wind wühlte meine Haare auf. Die Seitenteile des Mantels flatterten hoch. Ich sprach ein leises Gebet.
Letzte Abschiedsworte für Nadine Berger.
Dann wandte ich mich beinahe abrupt ab, um Suko Platz zu machen. Auch er warf Lehm auf den Sarg und blieb für eine Weile stumm stehen, während ich mir die Nase putzte.
In diesen Augenblicken hatte ich das Bild aus der Trauerhalle vergessen. Mein Blick glitt über die Köpfe der meisten Trauergäste hinweg und verlor sich in der Weite des irischen Hügellandes. Hinter dem Friedhof stieg das Gelände sanft an. Eine prächtige grüne Weide, auf der Schafe das saftige Gras rupften und sich den Winterspeck anfraßen.
Schritte knirschten, und Suko blieb neben mir stehen. Er sagte nichts, sondern nickte nur.
Es dauerte seine Zeit, bis alle Trauergäste der Toten die letzte Ehre erwiesen hatten. Der Priester blieb auch bei uns. Sein Blick hakte sich in meinem Gesicht fest, doch ich zuckte mit keinem Muskel.
Irgendwann gingen wir. Ich hörte, daß Emily Berger in einem Gasthaus eine Kaffeetafel hatte decken lassen. Alle Trauergäste sollten sich dort versammeln.
Suko und ich wollten ebenfalls mitgehen. Allerdings keinen Leichenschmaus halten, aber vielleicht konnten wir etwas über das Geheimnis erfahren, das es in diesem Ort und der näheren Umgebung geben mußte.
Wir ließen alle vorgehen, so daß Suko und ich den Schluß bildeten. Auch der Geistliche war schon weg. Als wir uns etwa fünfzig Yards von dem Grab entfernt hatten und uns bereits auf dem Weg befanden, der zum alten Teil des Friedhofs führte, blieb ich noch einmal stehen und drehte mich um.
Mein Blick schweifte über das Gräberfeld. Leer und verlassen lag es dort. Am Himmel segelten dicke Wolken.
Sie sahen aus wie riesige, graue Wattebälle und bildeten die triste Staffage für einen Tag voller Trauer und Schmerz.
Und noch etwas sah ich.
Einen Schatten!
»Suko!« zischte ich und deutete nach vorn.
Er sah den Schatten so eben noch. Er huschte aus dem offenen Grab, in dem eigentlich Nadine Berger hätte liegen müssen.
Ein Wolf!
Ein paar Schritte lief das Tier, blieb stehen, wandte den Kopf und schaute zu uns hinüber.
Dann jagte es mit langen Sprüngen weg, bis dicht wachsende Büsche es unseren Blicken entzogen.
Sofort rannten wir zurück. Gemeinsam erreichten wir das Grab, blieben stehen und schauten in die Tiefe.
Der Sarg befand sich noch dort. Allerdings zertrümmert, als hätten Urkräfte in ihm gewühlt und ihn auseinandergerissen.
Jetzt hatten wir den richtigen Beweis. In dem kleinen Ort Avoca ging etwas Schreckliches vor…
***
Die Gaststube war urgemütlich, allerdings auch überheizt. Für die Hitze sorgte ein Kanonenofen, der in einer Ecke stand und dessen Platte glühend rot strahlte. Die Kaffeetafel war im Hinterzimmer gedeckt worden. Die Trauergäste hatten schon Platz genommen. Wir trafen als letzte ein, und zwei Kellnerinnen nahmen die Bestellungen auf. Wir schälten uns aus den Mänteln und suchten einen freien Platz.
Bis auf zwei Tische waren alle besetzt. Wir nahmen den dicht am Fenster.
Unaufgefordert stellte uns eine der Kellnerin zwei Gläser
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