0191 - Fenris, der Götterwolf
die Dämmerung fiel über das Land. »Wir werden den Orgelspieler fragen, wo sich das Kloster befindet«, schlug ich vor. »Den Weg wird er sicherlich kennen.«
Suko war einverstanden. Wir wollten uns schon erheben, weil die Kollegen und Kolleginnen der toten Nadine ebenfalls zum Aufbruch rüsteten, als es geschah. Niemand hatte damit gerechnet, und niemand ahnte Böses, aber hinter uns, wo sich das kleine Fenster befand, zersplitterte plötzlich die Scheibe.
Unwillkürlich duckten wir uns und zuckten trotzdem noch herum. Suko und ich sahen den grauen Schatten, der die Scheibe zertrümmert hatte, deren Splitter gegen unsere Rücken prasselten.
Der Schatten wischte zwischen uns her, über den Tisch hinweg und schleuderte mit dem Schwanz das Geschirr von der Platte, das klirrend am Boden zerbrach.
Suko und ich sprangen hoch.
Das Wesen, das durchs Fenster gesprungen war und jetzt mitten im Raum stand, war ein ausgewachsener Wolf!
***
Rose Kiddlar war neun Jahre alt, hatte rotes Haar und zwei lustige Zöpfe wie die von der großartigen Astrid Lindgren erfundene Figur Pippi Langstrumpf. Und Rose ähnelte Pippi nicht nur im äußeren Erscheinungsbild, sie war auch immer zu Streichen aufgelegt. An diesem Nachmittag war sie von ihrer Mutter weggeschickt worden, um Milch zu holen. Die Familie Kiddlar gehörte zu den wenigen Ausnahmen im Ort, die keine eigene Landwirtschaft betrieben, sondern von der Whiskybrennerei lebten. Deshalb holten sie ihre Milch immer beim Bauern.
Rose Kiddlar trug eine der Milchkannen, wie sie früher einmal benutzt worden waren und jetzt schon auf manchen Flohmärkten verkauft wurden. Die Kanne hatte zwar mal einen Deckel besessen, doch der war irgendwann im Laufe der Zeit verschwunden. Auch beim Milchholen, und natürlich war Rose daran schuld.
Der Bauer, bei dem sie die Milch holen mußte, besaß einen großen Hof außerhalb des Ortes, inmitten sanft gewellter, saftiger Kuhweiden und Felder. Ein schmaler Weg, von Traktorspuren gezeichnet, durchschnitt die Felder. Die Spuren liefen rechts und links, und sogar das Profil der Reifen war gut zu erkennen. Zwischen den beiden Profilen wuchs Gras. Grüne Büschel, die im Herbst auch langsam braun wurden.
Rose hatte es nicht eilig. Sie tänzelte mehr, als daß sie ging und schwenkte die leere Milchkanne, wie andere Leute ihre Taschen.
Dabei sang sie ein altes irisches Volkslied. Als sie die Kühe auf der Weide passierte, blieb sie stehen und streckte den blöd dreinglotzenden Rindviechern die Zunge heraus.
Dann lief sie lachend weiter. Der Weg beschrieb eine Linkskurve.
Als sich das Mädchen in deren Scheitelpunkt befand, konnte es bereits das Wohnhaus mit dem roten Dach sehen. Die beiden übrigen Gebäude, Stall und Scheune, standen im rechten Winkel dazu, so daß alle drei Bauten ein großes U bildeten.
Der Bauer hatte fünf Kinder, und alle arbeiteten mit. Die beiden Mädchen befanden sich auf dem Hof, sie fütterten die Hühner.
Roses Augen glänzten plötzlich. Dann begann sie zu rennen. Sie jagte auf den Hof, so daß die Hühner einen panischen Schrecken bekamen und wild hochstoben.
Die beiden Mädchen schimpften, nur Rose lachte. Ihr war mal wieder ein kleiner Streich gelungen.
»Was willst du?« fragte Sharon sie. Sharon war die älteste und schon vierzehn. Ihre Sommersprossen waren kaum zu zählen. Sie besaß noch mehr als Rose.
»Milch holen.«
»Man sollte dir Essig geben, du kleine Hexe.«
»Na, na, na, Sharon.« In der offenen Haustür stand die Bäuerin.
Wenn man sie sah, wußte man, woher das rote Haar stammte. Die Mutter hatte es ihr vererbt.
»Sie hat uns die Hühner verjagt«, beschwerte sich Sharon.
»Die kommen wieder.«
Rose streckte den beiden Mädchen die Zunge heraus, aber so, daß die Bäuerin es nicht bemerkte. Dann durfte sie ins Haus gehen und bekam die frische Milch. Bezahlen brauchte sie nicht. Am Ende des Monats wurde immer abgerechnet.
Als Zugabe bekam Rose noch ein Stück Schokolade, das sie rasch in ihrem Mund verschwinden ließ. »Und grüße mir deine Eltern«, sagte die Bäuerin noch.
»Mach ich.«
Die Hühner hatten sich wieder eingefunden. Diesmal wurden sie nicht verscheucht.
»Das gibt Rache«, rief die kleinere der Schwestern noch. »Komm du in die Schule.«
»Fang mich. Fang mich doch!« rief Rose und rannte, obwohl sie die Milchkanne trug. Ein paar Spritzer klatschten gegen ihre Beine, damit hatte Rose jedoch nichts am Hut.
Sie nahm den gleichen Weg, den sie schon zuvor gegangen
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