0193 - Der Mitternachts-Vampir
»Glaubst du an den Weihnachtsmann?«
»Wieso?«
»Will ist es doch nicht besser ergangen als mir. Der wird noch in seiner Koje liegen.«
»Abwarten.«
Wir fuhren nach unten in den Frühstücksraum. Die meisten Gäste hatten schon gegessen. Ein Tisch am Fenster war frei. Dort nahmen wir Platz und schauten in einen Garten, der im Sommer bestimmt prächtig aussah. Jetzt lag das Laub auf dem Boden. Die Äste und Zweige der Bäume wirkten wie kahle, lange Finger.
Wirklich kein schönes Bild.
Man hatte eine Frühstückstheke aufgebaut. Dort stand das, was das Herz begehrte.
Ich hatte großen Hunger, nahm Wurst, Konfitüre und Käse.
Orangensaft trank ich ebenfalls und natürlich starken Kaffee. Der tat wirklich gut. Als ich die erste Tasse geleert hatte, ging es mir besser. Ich hätte schon wieder Bäume ausreißen können.
Das sagte ich auch Suko.
»Fragt sich nur wo«, kommentierte mein Freund bissig.
»Wahrscheinlich in der Sahara.«
»Widerlich. Und so etwas wie du will ein Freund sein.«
Es war genau drei Minuten vor zehn, als Kommissar Mallmann erschien. Frisch wie ein Frühlingsmorgen, obwohl wir mittlerweile November hatten.
Suko stieß mich unter dem Tisch an. Er hatte also Recht behalten.
»Na, ihr müden Krieger«, begrüßte uns Will. »Geht's wieder?«
Ich schaute ihn aus meiner sitzenden Stellung an. »Was heißt hier, geht's wieder? Es ist immer gegangen.«
»Stimmt das?« fragte Will.
Diesmal stieß ich Suko an, doch der Chinese war ein Verräter. Er berichtete Will von seinen Bemühungen, mich wach zubekommen.
Der Kommissar nickte. »Typisch, erst eine Sause machen wollen und dann die Folgen nicht verdauen.«
»Immer auf die Kleinen«, beschwerte ich mich und grinste.
Dann wurde Will ernst. »Wir hätten keinen Zug machen sollen«, sagte er, »denn als wir unterwegs waren, hat dieser Vampir wieder zugeschlagen.«
Ich ließ die Kaffeetasse sinken, die ich in der Hand gehalten hatte.
Auch Suko zeigte sich überrascht.
»Wo?« fragte ich.
»Gar nicht mal weit von hier. Auf der anderen Rheinseite. In der Nähe von Wiesbaden. Ein kleines Taunusstädtchen. Ich bin auch nur durch Zufall darauf gestoßen, weil ich noch im Büro war und mir die Meldungen der vergangenen Nacht anschaute. Da las ich es halt. Der Vampir hat sich sein viertes Opfer geholt.«
»Ist das sicher?« fragte ich.
»Man verläßt sich da auf die Zeugenaussage eines sechsjährigen Jungen.«
Ich verzog das Gesicht.
»Normalerweise würde ich auch nichts dafür geben. Aber hier sieht die Sachlage anders aus. Wir hatten schließlich drei ähnliche Fälle zuvor.«
Da mußte ich dem Kommissar zustimmen. »Wie ich dich kenne, werden wir uns den Tatort gleich mal anschauen«, sagte ich.
»Ja.«
»Willst du vorher noch frühstücken oder ist dir der Appetit vergangen?«
Mallmann lachte. »Nein, John, ein gutes Frühstück könnte ich schon vertragen. Mit leerem Magen bin ich nur ein halber Mensch. Und wie ich die Sache so sehe, werden wir heute wohl kaum dazu kommen, in Ruhe zu essen.«
Da hatte der Kommissar ein wahres Wort gesprochen. Ich sagte der Bedienung Bescheid und bestellte erst einmal Kaffee für uns alle. So munter Will Mallmann auch tat, tatsächlich aber hatte er die gleichen Ringe unter den Augen wie ich.
Auch er schien die Züge durch die Gemeinde nicht so ohne weiteres wegzustecken.
***
Der Vampir ließ sie schreien!
Auch die anderen drei hatten geschrien, als er sie in sein Reich schaffte. Das machte nichts, denn hier würde sie niemand hören. Der Stollen verschluckte die Geräusche und über ihm lag die Erde, der Wald und die Trümmer der alten Burg.
Grell schnitten die Schreie der Frau durch die große Höhle. Sie schüttelte dabei den Kopf, schluchzte und wimmerte, während der Blutsauger neben ihr stand, die Fackel hielt und zuschaute.
Bald würde er das Blut bekommen. Noch Minuten, dann war die Neue seine Braut.
Und sie würde ihren Platz in einem der Särge finden. Zwei waren ja noch leer.
Der Vampir dachte nicht im Traum daran, aufzuhören, wenn die fünf Särge gefüllt waren. Er würde sich weitere Frauen holen und den Herrscher spielen, wie vor langen Zeiten es der Graf Dracula getan hatte, sein großes Vorbild.
Lange genug hatte Morro, der Vampir, in der feuchten kalten Erde gelegen. Man hatte ihn begraben, verschüttet und vergessen. Doch er hatte nichts vergessen. Er überlebte, fiel in eine totenähnliche Starre, und als die schweren Bagger den Steinbruch abräumten, da
Weitere Kostenlose Bücher