02 Die Kinder der Rothschildallee
Äonen währte und in dem selbst ihre beherrschte, rationale Mutter sich ihrer Gefühle nicht genierte, sah Claudette wie die Fee aus Titanias Gefolge aus, die sie als Zwölfjährige in einer Schulaufführung von Shakespeares »Sommernachtstraum« gespielt hatte. Sie beugte sich hinunter zu ihrem Hund und tätschelte seinen Kopf. »Ich habe«, erklärte sie, »mit Snipper gesprochen, und er hat gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen. Es wird ihm gut gehen bei Josepha und den Großeltern.«
Es war das letzte Mal, dass Claudette, die kleine Circe, Reißaus in ihre Kindheit nahm. Danach waren ihre Augen nie mehr so klar, ihr Haar schimmerte nicht mehr, als hätte es das Mondlicht in der Nacht geküsst, und auch das Lächeln war nicht mehr so arglos und spontan, wie es das Lächeln der Kinder ist. Claudette, ohne Vater aufgewachsen, jedoch eingebettet in die Liebe einer Familie, für die Liebe Gebot und Nahrung war, saß auf der Fensterbank und baumelte mit den Beinen. Noch konnte sie in das Paradies schauen, aus dem man sie verstoßen hatte. Schon aber entschlüpfte sie dem Kokon, der die Kinder beschützt und ihnen weismacht, Sicherheit und Glück würden ewig währen. »Wie«, fragte die junge Frau, die soeben den Schicksalsapfel vom Baum der Erkenntnis gepflückt hatte, »kommt man überhaupt nach Palästina?«
»Die Kinder Israels«, erinnerte Erwin sie, »haben es zu Fuß geschafft, doch bei der Ankunft waren sie ziemlich mieser Laune und beklagten sich, es hätte immer nur Manna vom Himmel geregnet und niemals frische Brötchen. Wir werden mit dem Zug nach Genua fahren und von dort mit dem Schiff ins Gelobte Land. Und wir setzen auf dich, dass wir unterwegs besser gestimmt sind und mehr Vertrauen in Gott haben werden als unsere Urväter.«
Sie hätten alle drei lachen sollen, denn die Kinder im Hause Sternberg lernten schon früh Galgenhumor und Selbstironie als Seelenschutz und Stütze einzusetzen. Es war aber nur der Hund, der fröhlich war. Snipper der Unverwüstliche stellte sich auf seine Hinterbeine, riss das Maul löwenweit auf, zeigte Zähne und Zunge und fing japsend den Keks, den Clara ihm zuwarf. »Ich bin stolz auf dich, Claudette«, sagte sie.
»Wir feiern alle noch einmal zusammen Schabbes«, bestimmte Betsy, nachdem feststand, dass das Schiff am 11. November von Genua abfahren sollte. Die Zugkarten nach Italien wurden für den 9. November bestellt, für den fünften des traurigen Monats orderte die Hausfrau Suppenfleisch, Hecht und zwei Hühner. An diesem Tag legte in Berlin der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler seine Zukunftspläne dar. Er wies auf die Notwendigkeit hin »die Raumnot des deutschen Volkes« zu beheben und kündigte die Annexion Österreichs und der Tschechoslowakei an.
Erwin und Clara waren da bereits so mit der Zukunft beschäftigt, dass sie weder Augen noch Ohren für die Geschehnisse in der Heimat hatten. In den Nächten, die sie zusammen durchwachten, saßen sie am Fenster und fragten einander, was ihnen geschah und weshalb. Zuweilen sahen sie einen Stern und grübelten, ob der wohl auch an Palästinas Himmel strahle. Dann träumten sie von einem Neuanfang, von Datteln und Feigen und vom Seelenfrieden.
»Ich hab noch nie eine frische Feige gegessen«, sagte Clara.
»Und ich noch nie Seelenfrieden gefunden«, erkannte Erwin.
Am 5. November sagte Hans Dietz auf dem Weg von Offenbach nach Frankfurt, den Anna und er auf Fahrrädern zurücklegten, weil sie sich nur frei fühlten, wenn sie zu zweit allein waren. »Hier stinkt es in jeder Ecke nach Krieg. Du glaubst gar nicht, wie ich Erwin beneide.«
»Ich bewundere ihn«, erwiderte Anna, »er hat immer Mut gehabt.«
»Auswandern ist nicht mehr eine Sache von Mut, Anna.«
So viele von der Familie hatten schon lange nicht mehr am sternbergschen Esstisch gesessen. Victoria – nicht mehr die erwartungsfrohe Himmelsstürmerin, aber noch immer schön und elegant – war mit den Kindern da. Ihre Schwiegermutter saß neben dem Hausherrn. Die alte Frau Feuereisen war seit der Abfahrt ihres Sohnes nach Amsterdam und Victorias steter Weigerung, mit den beiden Kindern nachzukommen, sehr gealtert und auffallend gebrechlich geworden. Hans nahm zum ersten Mal an einem Sabbatessen teil, den kleinen Salo zur Linken und auf dem Kopf das weinrote Samtkäppchen mit goldfarbener Bordüre, das seit vierzig Jahren für unerwartete Feiertagsgäste in dem kleinen Schrank in der Diele lag.
»Mensch, Hans, man meint, du hättest schon immer
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