02 Die Kinder der Rothschildallee
drei Ecken«, stimmte Don Juan aus dem Tunnel an.
»Ich glaub’, das verwechselt der Herr mit Napoleon.«
»Napoleon«, erinnerte sich der Herr der Küsse, »hieß der Hund von meinem ersten Lehrer. Er trug keine Hüte. Dafür stank er aus dem Maul. Von hinten auch.«
Victorias neuer Hut aus feinstem englischem Filz, leuchtend rot und zu ihrem neuen Lippenstift aus Paris und den Lackschuhen mit den schmalen goldenen Spangen passend, hatte einen breiten Streifen aus schwarzem Kalbsleder unmittelbar über der kleinen kecken Krempe; auch die eng anliegende Hutglocke war mit Leder verziert. Die flotte Kopfbedeckung hatte am Frankfurter Hauptbahnhof die neidvollen Blicke von mehreren barhäuptig reisenden Frauen erregt und war trotz des Umstands, dass die Behütete in imponierender männlicher Begleitung reiste, von einem Gleisbauarbeiter mit einem äußerst frivolen Laut der Zustimmung bedacht worden.
Das modische Hutgebilde entsprach exakt dem Titelbild der viel gelesenen und stilbildenden Zeitschrift »Jugend«. Victoria, die sich für Kunst nur insoweit interessierte, wie sie das Theater betraf, las das angesehene Magazin ausschließlich wegen seiner modischen Anregungen für die Damen der feinen Gesellschaft. Kaum war die Frühjahrsausgabe mit dem gezeichneten Porträt einer strahlenden jungen Frau erschienen, die cognacfarbene Lederhandschuhe trug und einen Golfschläger schwenkte, hatte Victoria in sämtlichen Hutsalons der Stadt nach einem entsprechend schicken Kopfschmuck gefahndet. Aber, wie sie sich nach einer zwei Tage währenden und vergeblichen Suche bei Clara beklagte, hatte sie »wieder einmal festgestellt, dass Frankfurt eine Provinz ist, die meilenweit hinter Berlin und München herhinkt«.
Obwohl die Berger Straße in Frankfurt weder bei den einheimischen Bornheimern noch bei den übrigen Bewohnern der Stadt als eine Stätte galt, die zu modischen Capricen verleitete, war Victorias Hartnäckigkeit ausgerechnet dort belohnt worden. Eine ältliche Putzmacherin am Merianplatz, die ihr graues Haar zu einem bäuerlichen Nackenknoten flocht und die so aussah, als wüsste sie nicht, weshalb Frauen überhaupt Hüte trügen, es sei denn, um sich vor Herbstwinden und Mittelohrentzündung zu schützen, hatte sich von ihrer schönen Kundin überreden lassen, die Kreation aus der »Jugend« nachzuarbeiten. Frau Brombach tat dies hauptsächlich deswegen, weil ihre Tochter Gretel und »die entzückende kleine Sternberg« ihre ersten vier Schuljahre in derselben Klasse an der Merianschule verbracht hatten. Allerdings erfuhr Mutter Brombach nie, dass Victoria mit dem Engelsblick mehr als einmal die blonden Zöpfe ihres duldsamen Gretelchens, die unmittelbar vor ihr saß, ins Tintenfass getunkt hatte.
Von dem Hut, den sie schon acht Tage nach der Bestellung abholen konnte, war Victoria begeistert. Sie verzichtete auf ihre übliche lässige Attitüde beim Einkaufen, mit der sie zu verstehen gab, dass sie Besseres gewohnt wäre, und ließ Gretchen, die gerade ihr zweites Kind erwartete und »es in den Beinen hatte«, von »ganzem Herzen« grüßen. Danach bestellte die glückliche Kundin noch einen marineblauen Seidenhut – gesteppt und mit passendem Halstuch. Den hatte sie in der gleichen Ausgabe der »Jugend« gesehen wie den roten. Das Halstuch war eine Eingebung des Moments, die sie selbst verblüffte.
»Für die Gelegenheiten, bei denen ich repräsentieren muss«, erklärte sie zu Hause, »schließlich mag man ja nicht immer großen Schmuck tragen.«
»Bei welcher Gelegenheit muss ein Mädchen repräsentieren, das kein Mensch kennt?«, hatte ihre Mutter gefragt und so wieder einmal Victorias Mutmaßung bestätigt, dass die Mütter aus dem bürgerlichen Milieu ab einem bestimmten Alter unleidlich wurden und eine sadistische Freude hatten, ihre Töchter an den Umstand zu erinnern, dass die ihre Füße noch unter den elterlichen Tisch stellten und sich demnach nicht den Luxus einer eigenen Meinung gestatten durften. Betsy hätte ein solches Verhalten nie zugegeben, doch selbst ihr Mann, der nur in Ausnahmefällen für seine Kinder Partei ergriff, warf ihr zuweilen vor, dass sie überkritisch und im Umgang mit der Jugend nicht tolerant genug war.
Der Kavalier an Victorias Seite hieß Wilhelm Ernst Hofmann. Weil er sämtliche drei Namen als zu gewöhnlich für einen Mann hielt, in dessen Zukunft er noch mehr Phantasie als Hoffnung investierte, nannte er sich Wladimir – bei Bekannten und Freunden Wladi. Wenn er
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