02 Die Kinder der Rothschildallee
Johann Isidor hatte seiner Familie stets gepredigt, ein Akademiker hätte Anspruch darauf, mit Zurückhaltung behandelt zu werden. Vor allem einer mit Doktortitel.
Die zweite Generation war sich wesentlich näher gekommen. Der gewandte Theo mit der liebenswerten Charaktereigenschaft, die Schwachen vor den Angriffen jener Leute zu beschützen, die mit ihren Fäusten redeten, war der einzige Freund gewesen, den Otto je gehabt hatte. Der Ältere hatte dem Jüngeren das Tor zu einer Welt aufgestoßen, in dem Gehorchen nicht mehr die einzige Sohnespflicht war. Ohne Theo hätte Otto nie erfahren, was dem Menschen Lebensfreude, Heiterkeit und Freundschaft sind. In einem Brief, der seinen Empfänger erst nach dem Tod seines jungen Freundes erreichte, schrieb Otto: »Ich hab erst hier draußen begriffen, was ich Dir alles zu verdanken hab.«
1915, schwer verletzt an der Westfront, kehrte Theo nach Frankfurt zurück. Er nutzte die Gelegenheit, um der fünfzehnjährigen Clara Heines Gedichte ins Ohr zu flüstern und sie im Hinterhof, zur Zeit der knospenden Rosen, in die Liebe einzuführen. Lange Zeit vermutete Johann Isidor, der gut aussehende junge Mann, dem der Krieg den linken Fuß und die Beweglichkeit seines rechten Arms genommen hatte und somit auch seinen Beruf als Fotograf, könnte der Vater der kleinen Claudette sein. Da Clara aber jedes Gespräch mit den Eltern verweigerte, das Einblick in ihr Leben hätte geben können, teilte Johann Isidor das Fazit vieler schlafloser Nächte noch nicht einmal mit seiner Frau.
Der Besuch von Vater und Sohn Berghammer verwunderte ihn sehr. In den einundzwanzig Jahren und vier Monaten, in denen Doktor Berghammer in der Rothschildallee wohnte, hatte er kein einziges Mal seinen Vermieter persönlich aufgesucht. Theo hatte sich seit Ottos Tod nicht bei den Sternbergs blicken lassen, und Josepha hatte irgendwann erzählt, der junge Berghammer würde gar nicht mehr in der Rothschildallee wohnen. Nun saß er im gleichen Sessel wie früher – allerdings mit zusammengepressten Lippen und halb geschlossenen Augen. Den strahlenden Theo, der als hoffnungsvoller junger Spund morgens mit rotem Halstuch und überbordender Fröhlichkeit zur Arbeit gegangen war und der so ausgesehen hatte, als wäre er Fortunas Sohn, gab es nicht mehr. Er trug einen schweren orthopädischen Schuh und drückte seinen gelähmten Arm an die Brust. Den Kaffee, den Betsy ihm hinstellte, trank er schweigend, die Tasse hielt er in seiner gesunden Linken, die angebotenen Kekse lehnte er ab. Er wirkte ungeschickt und verlegen, die Augen trübe, das Gesicht starr. Theo Berghammer war zweiunddreißig Jahre jung, doch bereits ein alter Mann, der die Wolken grau und die Erde hatte blutrot werden sehen. Johann Isidor litt mit dem Jungen, den er früher gekannt hatte, doch sein Gedächtnis duldete das Mitleid nur einen Herzschlag lang – seinem Sohn war ja noch nicht einmal das Leben geblieben. Der Vater, der keine Ruhe fand, schämte sich seines Neids; er hatte das Bedürfnis, sich bei Theo zu entschuldigen. Es war, so hatte er als Kind gelernt, Gotteslästerung, die Lebenden mit den Toten zu vergleichen.
»Es tut mir sehr leid«, erklärte Doktor Berghammer, »Ihnen sagen zu müssen, dass wir die Wohnung aufzugeben gedenken.«
Johann Isidor verwirrten sowohl der Ton als auch die sprachliche Umständlichkeit. So begriff er erst allmählich, dass Doktor Berghammer dabei war, die Wohnung im dritten Stock zu kündigen. Sein Hauswirt überlegte, ob die Kündigung auf einen finanziellen Engpass hindeutete, kam jedoch zum Ergebnis, dass dies bei einem pensionierten Oberstudienrat wohl nicht zu erwarten war.
»Es fällt mir wirklich schwer«, hörte er Doktor Berghammer sagen, »wir haben gerne hier gewohnt. Sehr gerne. Auch als mein Sohn klein und ziemlich laut war, wie wir alle ja noch gut wissen, waren Sie und Ihre Gattin immer großzügig. Das machte das Zusammenleben angenehm.« Es stellte sich heraus, dass er ein kleines Haus in Bensheim an der Bergstraße geerbt und nun das Bedürfnis hatte, seinen Ruhestand in einem milden Klima und an einem so »liebenswerten Ort zu genießen, wie es Bensheim ist. Und wir sind ja auch froh, wenn wir keine Treppen mehr steigen müssen.«
Johann Isidor verlor ungern einen solventen Mieter. Während er nach den verbindlichen Worten suchte, die ihm fällig schienen, machte er sich die Vorwürfe, die er später seiner Frau machen würde. Weshalb um Himmels willen fummelte die dauernd an der
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