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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Statisterie an mehreren Frankfurter Theatern knüpfen können. Die Kontakte brachten beiden Seiten Gewinn. Wladi öffnete den Theaterleuten eine billige Bezugsquelle für Obst und Gemüse, sie dankten ihm mit einem winzigen Stück vom Zauberreich der Muse Thalia.
    »Ich spiele gerade eine tragende Rolle«, erzählte er Victoria, als die Lindenbäume blühten und die Dahlien schwere Köpfe trugen; den alten Theaterwitz hatte er am Vortag zum ersten Mal gehört. Victoria kannte ihn nicht. Den, der das hübsche Wortspiel so flott vortrug, als hätte es ihm niemand erklären müssen, schaute sie bewundernd an. Sie merkte nicht, dass ihr Herz so schnell schmolz wie das Vanilleeis vor ihr und dass ihre Augen groß wie Unterteller und leuchtend wie der Abendstern waren. Wladi schenkte ihr eine Kastanie vom Vorjahr und sagte, Kastanien in der Tasche brächten Glück und schützten vor Rheuma. Er vergaß, was er im Allgemeinen von höheren Töchtern hielt, und verliebte sich spontan in das elegante junge Fräulein, das soeben für seine Nichte einen dümmlich blickenden Stoffhund mit langen schwarzen Ohren zu einem Preis gekauft hatte, den Wladi für Sünde hielt. Die Plüschsünde mit roter Zunge saß mit am Cafétisch, die Glückskastanie unter der dicken Pfote.
    »Eine tragende Rolle?«, fragte Victoria. Sie runzelte die Stirn, als würde sie denken.
    »Ja«, bestätigte Wladi und streichelte die zarte Haut über den Sternenaugen glatt.
    Er hatte gerade in Schillers »Kabale und Liebe« ein silbernes Tablett mit einer Kristallkaraffe in den Salon des Präsidenten von Walter getragen – wenn sich Witz mit Spott vermählte, nannten Schauspieler das eine tragende Rolle. Zuvor hatte Wladi in einem modernen Stück, das es zu seinem Kummer nur auf fünf Aufführungen gebracht hatte, einen Sack Kohle von der rechten Bühnenseite zur linken geschleppt.
    Tragende Rollen fand Wladi auch bei Tag. Damit bedacht wurde er in der Frankfurter Großmarkthalle. Dort schleppte er zweimal wöchentlich für einen Obsthändler, der sowohl Wladis Muskeln als auch seinen Humor schätzte, schwere Kisten mit den Früchten der Saison. Im Mai durfte er den Bruchspargel behalten, der noch nicht einmal gut genug für Suppen war, im September die Zwetschen, an denen die Maden noch in der Küche sparsamer Hausfrauen nagten. Beides verkaufte Wladi, obwohl ihm der Gewerbeschein fehlte und er dies nicht durfte, hinter der Mauer des alten Petersfriedhofs. Seine Kundinnen schwärmten für seine Preise und noch mehr für seine Komplimente.
    Dass Wladi auch kleine Erfolge bejubelte, als hätte er zu gleicher Zeit das Rad entdeckt und das Ei des Kolumbus gefunden, imponierte Victoria. Sein Optimismus und ein Mutterwitz, der ihr umso mehr gefiel, weil sie ihm zum ersten Mal begegnete, ließen sie leichten Sinnes über den Graben springen, der ihre Welt von der seinen trennte. Sie begann, sich Gedanken über Menschen zu machen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren waren. Kurz vor Kassel fragte sie ihn, ob sie nicht auch mal versuchen sollte, sich in der Welt der Arbeit zu bewähren. Wladi, der ein Menschenkenner war, obwohl er das noch nicht wusste, riet ihr ab. »So tief ist Deutschland noch nicht gesunken, als dass Frauen wie du ihren Buckel krumm machen müssen. Bleib du nur bei deinem Leisten, setz dich den richtigen Leuten auf den Schoß und fang bei mir an.«
    »Soll das ein Kompliment sein?«, fragte Victoria.
    »Was sonst?«
    Sie hielt den Kopf ein wenig schief und erzählte ihm von ihren vergeblichen Bemühungen, Schauspielerin zu werden. »Noch nicht einmal die kleinste Statistenrolle«, bekannte sie.
    Sie hatte sich für die Rolle einer Elfe in Oberons Gefolge in der Darmstädter Aufführung vom »Sommernachtstraum« beworben. Dort hatte sie von einem stark verschnupften Mann unbestimmbaren Alters und bestimmbaren Körpergeruchs, der sie noch nicht einmal nach ihrem Namen gefragt und ihren Beinen in schwarzen Seidenstrümpfen keinen Blick gegönnt hatte, zu hören bekommen, eine Elfe im »Sommernachtstraum« wäre »weiß Gott keine Rolle für ein Mädchen, das das Theater mit einem Spielplatz für Backfische verwechselt«.
    Das Fahrgeld nach Darmstadt und zurück hatte sich der vom deutschen Theaterhimmel rüde abgewiesene Stern von seiner Schwester Clara leihen und auch noch den misstrauischen Eltern ihre ganztägige Abwesenheit von zu Hause erklären müssen. Da war sich Victoria in der Tat wie ein Backfisch mit wöchentlich zugeteiltem

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