02 Die Kinder der Rothschildallee
wenn er es gewollt hätte, hätte er nicht in Worte fassen können, was ihm widerfuhr. Es war ihm nie gegeben gewesen, zu sagen, was er fühlte. Nun wurde er kleingläubig und schwermütig, denn er spürte, dass er dabei war, sich vom Leben zurückzuziehen. Oder hatte sich das Leben bereits von ihm zurückgezogen? »Du stellst Fragen, die nur Gott beantworten kann«, murmelte Johann Isidor. Er lächelte, als er erkannte, dass es die Mutter war, die ihn gerügt hatte.
Der Regulator in der Diele schlug zwölfmal. Auf der Straße hupte ein Auto. Der Ton war schrill und unverschämt, er passte nicht in die Welt der Kinderwonnen. Der Träumende hörte Pferdehufe; er beobachtete die hüpfenden Lämmer hinter seinem Vaterhaus, und er flehte Gott an, er möge sie vor dem Schlachtermesser schützen. »Und wovon willst du leben?«, fragte die Mutter.
Alice, die schwarzhaarige Teufelstochter, streckte ihre Zunge heraus und tanzte Polka. Sie trug eine unanständig tief ausgeschnittene Bluse und sang ein ordinäres Studentenlied. Ihr Vater setzte zu einer Ohrfeige an, aber seine Rechte erstarrte mitten in der Bewegung; er schämte sich seiner Unbeherrschtheit und schwor, nie mehr eins seiner Kinder zu schlagen. Die aus den Fugen geratene Welt würde er immer nur auf die sanfte Art ins Lot bringen. Er war froh, dass er ein Mann war, der den eigenen Botschaften glauben konnte.
Als Betsy den beherzten Streiter für das Gute zum Mittagessen rufen wollte, brachte sie es nicht über sich, ihn zu stören. »Genesungsschlaf«, meldete sie Josepha, »ich sag doch immer, es geht nichts über eine gute Hühnersuppe. Heute Abend verquirle ich ihm ein Ei mit Rotwein. Rotwein ist die beste Medizin.«
»Den empfiehlt ja selbst der Papagei.«
»Das«, sagte Betsy in der überdeutlichen Sprechweise, die wissen ließ, dass sie gekränkt war, »braucht uns ja nicht zu wundern. Frau Jettchens Gatte war ja schließlich Sanitätsrat.«
In dem Schlaf, der an der Zeit rüttelte, als wäre sie aus Papier, kamen noch viele Bilder, die Johann Isidor nur mit Mühe in sein Lebensbuch einordnen konnte. Einmal sah er sich mit goldenen Flügeln zur Sonne fliegen. Unmittelbar darauf reiste er im kaiserlichen Sonderzug nach Baden-Baden. Er war erstaunt, denn er hatte seit Jahren nicht mehr an den Baden-Badener Sommer mit der Familie gedacht. Am 28. Juni 1914 hatte er dort, beim Mittagessen auf der Terrasse vom schönen Kurhotel Zum Hirsch, vom Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand erfahren. Gefüllten Kalbsbraten in Rieslingsoße hatte es gegeben, mit Schupfnudeln und Gelbrübenpüree. Was konnte man von Leuten erwarten, die Karotten Gelbrüben nannten und aus ihnen Kinderbrei machten? Als Dessert hatten sie Charlotte russe serviert und wunderbare Erdbeeren im Schokoladenmantel. Obwohl er ja in der Vorfreude auf den Krieg so aufgeregt gewesen war, hatte Otto seine Portion bis zum letzten Löffel gegessen. Typisch Otto, ein Kind noch, aber doch schon ein Held. Ein deutscher Held.
Es schellte an der Wohnungstür. Zwei kurze, abgehackte Töne waren es – nicht laut, nur absolut ungewohnt um die Mittagszeit. Johann Isidor blinzelte, als die Baden-Badener Bilder zum Stuck an der Decke schwebten und dann entschwanden. Ihn erreichten Stimmen. Noch konnte er sie nicht orten, doch er glaubte, sie zu kennen; er atmete tief ein, glättete mit zwei Fingern seine Stirn und merkte, dass die Haut warm wurde und wohl auch feucht. »Quatsch«, sagte er, »damals hat doch weiß Gott keine Menschenseele geschellt.«
»Johann Isidor«, sagte Betsy, »Herr Doktor Berghammer ist hier. Er hat gefragt, ob er dich einen Moment sprechen kann.«
»Aber nur, wenn ich nicht störe, Herr Sternberg. Ich wusste ja nicht, dass Sie krank sind.«
»Nicht krank, nur alt.«
»Wem erzählen Sie das?«, lachte Doktor Berghammer. »Es geht den Menschen wie den Leuten. Jünger wird keiner.«
Erst da sah Johann Isidor, dass sein Besucher nicht allein war. Hinter ihm stand sein Sohn Theo. Oberstudienrat Doktor Berghammer, seit geraumer Zeit pensioniert, nach dem tragischen Unfalltod seiner Frau seit Jahren mit seinem ehemaligen Dienstmädchen verheiratet, wohnte seit 1906 im dritten Stock der Rothschildallee 9. Der Kontakt zwischen Vermieter und Mieter war trotz dieser langen Zeitspanne auf den in Bürgerhäusern üblichen Austausch von Höflichkeitsbezeugungen im Treppenhaus und auf Weihnachtskarten und Ostergrüße in den Hausbriefkästen beschränkt geblieben.
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