02 Die Kinder der Rothschildallee
es nicht mit Ämtern zu tun hatte, die ja ein solches Retuschieren der Wirklichkeit als Urkundenfälschung ausgelegt hätten, gab Wladimir seinen Familiennamen als Bellini an. Die befremdende Kombination pflegte er mit einer slawischen Mutter und einem Vater aus Pisa zu begründen – das Slawische sorgte in Künstlerkreisen für Aufmerksamkeit, für Pisa hatte er sich des Schiefen Turms wegen schon als Junge interessiert. Den Vater in Pisa hatte er mit einem hundertjährigen Olivenbaum, einer alten Wassermühle und einer Apotheke ausgestattet, in der Heilmittel und Salben nach altrömischem Rezepten gemischt wurden, die Papa Bellini in einem stillgelegten Brunnen gefunden hatte.
Victorias Eltern hätten die Vergangenheitskorrektur und die eigenmächtige Namensänderung über alle Maßen schockiert, doch sie ahnten nichts von der Existenz des Wladimir Bellini; es sah auch nicht danach aus, als würden sie ihn bald kennenlernen. Nach den Maßstäben des begüterten, klassenbewussten jüdischen Kaufmanns Johann Isidor Sternberg war der strahlende Recke, der seiner wohlbehüteten Tochter den Kopf verdreht hatte, ein Fehlgriff ersten Ranges. Er war genau der Mann, den ein verantwortungsvoller Vater nicht zum Schwiegersohn haben wollte. Er hatte die falsche Konfession, die falschen Eltern, keine Manieren und keine Hemmungen, er hatte weder Bildung noch Beruf. Der Zufall bestimmte die Höhe seines Einkommens.
Über jeden Verdacht erhaben war allein seine tadellose Garderobe. Die kam aus den Beständen eines der renommiertesten Frankfurter Herrenschneider, der seinerseits mit dem schönen Herrn Bellini eine äußerst ungewöhnliche Geschäftsbeziehung unterhielt. Schneidermeister Schafgut aus der Töngesgasse fiel es schwer, seine karge Freizeit mit seiner lebenshungrigen Frau zu teilen. Lieber baute er berühmte Gebäude aus Streichhölzern nach, doch sorgte er rührend dafür, dass sein dralles Trudchen gut unterhalten wurde und bei Laune blieb. Auf Geheiß ihres bastelnden Gatten hatte sie Herr Bellini zu Tanzveranstaltungen, in Cafés und Kinos und zu Faschingsbällen zu führen. Der fesche junge Mann lustwandelte mit ihr am Main und im Stadtwald, begleitete sie zur Bornheimer Kerb und in den Palmengarten und manchmal auch zur Kirche. Er erregte allerorten Aufsehen, denn er war nicht nur schön, er war zum Gigolo geschaffen. Das Verhältnis blieb eins in Ehren. Er und Trudchen hatten sich in Gegenwart des Ehemanns und bei einem Glas Arrak verpflichtet, es platonisch und frei von Nachbarhäme zu halten.
Alle drei waren zufrieden. In einem halben Jahr erbaute Schneidermeister Schafgut aus Zündhölzern der Marke Extraklasse sowohl den Frankfurter und den Kölner Dom als auch die Kirche von Notre Dame in Paris und Schloss Schönbrunn in Wien. Trudchen mit den flammend roten Haaren und den auffallenden Roben wurde von ihren Freundinnen und selbst von ihrer reichen Base Annegret, die einen Adeligen geheiratet und ein eigenes Ankleidezimmer hatte, um einen Begleiter beneidet, der nie mürrisch war, das Temperament eines jungen Hengstes hatte und gegen den der eigene Ehemann so langweilig war wie der Sonntagsbesuch bei einem schwerhörigen Erbonkel. Für seine Kavalierdienste wurde Wladi durch die bei seinem Auftraggeber bestellte und nicht abgeholte Garderobe entlohnt. Die Qualität der Anzüge, Sportjacken und Mäntel war superb – alle nötigen Änderungen waren kostenlos und wurden der Berufsehre wegen so sorgsam ausgeführt wie die der zahlenden Kunden.
Dass in der Familie Sternberg völlig andere Vorstellungen von Anstand, Moral und Tradition existierten, dämmerte Wladi dem Ahnungslosen nur schrittweise. Zunächst hielt er es für einen kapitalen Witz, danach für ein Relikt aus dem Mittelalter, dass Victorias Eltern ihrer zwanzigjährigen Tochter eine Reise nur deshalb verbieten würden, weil sie mit ihrem Reisegenossen nicht verheiratet war. »Werden denn bei euch die Frauen weggesperrt, bis sie einen Ehemann finden, der sie erlöst?«, wollte er wissen.
»So ähnlich«, sagte Victoria und zwinkerte keck mit dem rechten Auge. »Seit wann ist Heiraten eine Erlösung?«, fragte sie zurück.
Allein um das Reiseziel waren zwischen Eltern und Tochter Diskussionen entbrannt, die beide Parteien über die Maßen erschöpften. Weil Johann Isidor und Frau Betsy jedoch nicht mehr so ausdauernd im Kampf waren wie in ihren jungen Jahren, gaben sie nach, obwohl ihr Gewissen Alarm schlug. Zwar ahnten sie nicht, dass es eine
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