02 Die Kinder der Rothschildallee
Begleitperson geben würde, und doch formulierten sie ihre Verbote im drohenden Unterton und wiesen ihre minderjährige Tochter strengstens darauf hin, dass es die Eltern waren, die per Gesetz für sie die Verantwortung trugen. »Noch ein Jahr«, klagte der Vater.
»Die Vögel stößt man einfach aus dem Nest«, sagte Frau Betsy.
»Ich schreibe mindestens einmal die Woche«, versprach die überglückliche Tochter. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen und setzte an, was sie selten tat, ihre Mutter zu umarmen.
»Papier ist geduldig«, wehrte Betsy ab. Sie dachte an Erwins Briefe aus Berlin und Claras bewegende Kinderaufsätze in der Quinta.
Ihr Mann wurde deutlicher. Er sagte so laut, dass Josepha es in der Küche hörte und mit Grimm auf die Hollandaise einschlug: »Ein uneheliches Kind in der Familie reicht für ein ganzes Leben. Jedenfalls deinem Vater.«
Die offizielle Version, um die Reise zu begründen, war zwar kurios, erschien Johann Isidor und Betsy aber logisch. Obgleich sie so hellhörig wie ihre Kinder phantasiebegabt waren, kamen sie überhaupt nicht auf den Gedanken, ihre Tochter hätte den Reisegrund komplett erfunden. Victoria wollte, so erzählte sie, auf Empfehlung ihres Schauspiellehrers an einem Kurs über die deutsche Theateravantgarde teilnehmen. Der kluge, weitsichtige Mentor, von dessen Existenz bis dahin keiner in der Familie erfahren hatte, hätte gesagt, die Gelegenheit sei einmalig und für das Fortkommen seiner begabten Schülerin absolut erforderlich. Einen solchen Höhepunkt hätte ausschließlich die Reichshauptstadt zu bieten, und dies nur jedes zweite Jahr. »Und außerdem«, schloss die talentierte Schwindlerin, »will ich endlich Erwin besuchen. Dem habe ich das ganz fest versprochen. Schon seit Jahren.«
»Ich erinnere mich genau«, sagte ihr Vater, »es war an deinem sechsten Geburtstag.«
Bei der Tochter zeigte sich keine Spur von Verlegenheit. Die Ironie ihres Vaters war ihr so vertraut wie das eigene Gesicht. Schon gar nicht verfing sie sich in ihrem eigenen Lügennetz. Sie hätte vor, berichtete sie, wegen der beengten Wohnverhältnisse, in denen ihr Bruder lebte, bei ihrer alten Freundin Armgard von Edelhagen zu wohnen. Vater und Mutter wurden starr und stumm. Sie mochten nicht eingestehen, dass ihnen die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen ihrer Tochter und dem Adelsfräulein entgangen war.
Tatsächlich hatte Victoria nichts mehr von Armgard gehört, seitdem die in der Untersekunda von der Merianschule abgegangen und mit ihren Eltern nach Berlin gezogen war. Befreundet waren die beiden Mädchen zu keinem Zeitpunkt ihres kurzen gemeinsamen Weges gewesen. Bei der Familie von Edelhagen hatte der Antisemitismus eine lange Tradition. Baron von Edelhagen konnte sich immer noch erregen, dass Bismarck den jüdischen Bankier Bleichröder mit der Wahrnehmung seiner Finanzgeschäfte betraut hatte. Seine liebreizende Tochter war von gleicher Sinnesart. Sie hatte schon als Zwölfjährige ihre jüdische Klassenkameradin gefragt, wie viel Christenblut in einem Stück Matze wäre.
Die Erinnerung an die Szene in der großen Pause und wie sie sich beschämt auf der Schultoilette verkrochen hatte, machte Victoria das Taktieren leicht. Sie konnte sicher sein, dass Fräulein von Edelhagen nicht ausgerechnet dann einen Grund fand, um mit ihr Kontakt aufzunehmen, wenn sie selbst in Berlin war. Trotzdem machte sich Victoria die Mühe, von einer ehemaligen Mitschülerin die Adresse derer von Edelhagen zu beschaffen. Die verwies auf eine der besten Wohngegenden Berlins. In der Rothschildallee zeigte man sich beeindruckt.
»Das kostet mich alles nur Geld«, bilanzierte Johann Isidor. »Wer mit den großen Hunden heulen will, darf nicht als kleiner Pinscher hinterherlaufen. Du musst dich auch mal revanchieren können.«
»Bei Freunden kommt es doch nicht aufs Geld an«, erklärte die weise Tochter. Noch war sie keine Schauspielerin, aber glaubhaft schauspielern konnte sie bereits.
Genau wie Victoria Sternberg, die sich in dem kühnsten ihrer Tagträume vorzustellen beliebte, der große Max Reinhardt würde sie nach Berlin holen und sie im Verlauf einer einzigen Saison Goethes Gretchen, Gerhart Hauptmanns Hannele und Schillers Jungfrau spielen lassen, träumte auch Wladimir Bellini von deutschen Theaterbrettern. Er war Victoria allerdings um ein beneidenswertes Stück praktischer Erfahrung voraus. Dank Frau Trudchens großem Bekanntenkreis hatte Wladi Beziehungen zu den Leitern der
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