02 Die Kinder der Rothschildallee
Tischdecke herum? Hätte man den Berghammers nicht irgendwann die Küche kacheln müssen? Vielleicht hätten ein neuer Bodenbelag in den Wohnräumen oder einer dieser neumodischen Badeöfen die Leute zum Bleiben bewogen? Dass die gute Betsy auch nie in solchen Dingen Initiative zeigte. Hühnersuppe zu kochen war ja wahrhaftig keine Meisterleistung.
»Wie wäre es denn, wenn ich die Wohnung übernehme? Da brauchten Sie die Schilder an der Haustür und am Briefkasten nicht auswechseln zu lassen.«
Vater und Sohn hatten eine so ähnliche Stimmlage, dass Johann Isidor zunächst nicht begriff, dass es Theo war, der gesprochen hatte. Obwohl der höchstwahrscheinlich von einer winzigen Rente lebte, hatte er soeben allen Ernstes vorgeschlagen, eine repräsentative Fünfzimmerwohnung allein zu bewohnen. Oder etwa mit einem Untermieter in jedem Raum? Und mit einer gemeinsamen Küche, aus der es im ganzen Haus nach Kohl roch? Oder nach Erbsensuppe. Es gab neuerdings solche Mehrfachbelegungen großer Wohnungen, sozusagen als Antwort auf die wirtschaftliche Not. Aber doch nicht in einem ordentlichen Haus! Nicht in seinem. Johann Isidor spürte einen scharfen Schmerz im Kiefer. Er gab sich Mühe, nicht laut zu atmen. Weshalb haftete einem ablehnenden Nein immer das Stigma einer Kränkung an, und weshalb fiel es ihm immer schwerer, Nein zu sagen?
»Machen Sie sich keine Mühe«, erklärte Theo, »Kopfschütteln reicht.« Er stand auf, hatte seine gesunde Faust geballt, bohrte sie in die Hosentasche. Die Nasenflügel bebten. »Ich hab die Antwort erwartet. Wie kommt ein Mann wie Sie, der im Krieg das ganz große Geld gemacht hat, auch dazu, einem deutschen Krüppel ein Dach über dem Kopf zu verschaffen?«
3
VICTORIAS BERLINER REISE
August 1928
»Ich behalte immer den Hut auf in der Bahn«, sagte Victoria, als der Schnellzug Frankfurt–Berlin nach einer Fahrt durch einen ungewöhnlich langen Tunnel wieder in die grelle Sommersonne zurückkehrte, die die Hügel der Rhön vergoldete. Das Wort »immer« war eine der Vokabeln, auf die Victoria selten länger als zehn Minuten zu verzichten pflegte, denn Verallgemeinerungen hielt sie für einen Beweis von Erfahrung. Ihre Mutter warf ihr das besonders bei Diskussionen vor, in denen es um ihre Lebensplanung ging. Bruder Erwin hatte allerdings als Zeuge bei einer solchen Auseinandersetzung zu Protokoll gegeben, gerade die Verallgemeinerungen wären die Würze von »Vickys wundersamen Geschichten«. Was den Hut in der Bahn betraf: Victoria hatte seit dem 29. Juni 1914 in keinem Eisenbahncoupé gesessen. Damals war sie fast sechs Jahre alt gewesen, trug Schürzen über dem Kleid und Schleifen im Haar und war mit der Welt zerfallen – wegen des drohenden Kriegs, der im Rückblick der Große genannt wurde, war die Familie Sternberg überstürzt aus dem sonnigen Baden-Baden abgereist, Victoria auf Tante Jettchens Schoß in Tränen aufgelöst, weil der Mord in Sarajevo den Kauf der ihr versprochenen Schokoladenpflaumen in Goldpapier vereitelt hatte. Vierzehn Jahre und zwei Monate danach glühte ihre Haut nicht weniger als bei ihrer ersten Reise. Allerdings waren Pflaumen in Goldpapier nicht mehr der Anlass der Erregung.
Victoria verachtete Frauen als infantil und spießig, die wie junge Mädchen kicherten und erröteten, sobald sie mit einem Kompliment oder gar mit einer Zärtlichkeit bedacht wurden. Als ihr jedoch bewusst wurde, dass ihre Wangen brannten und dass die Stirn bestimmt auch feuerrot war, lächelte sie verzückt. Die angehende Theaterdiva hatte gerade eine Premiere erlebt. Sie war zum ersten Mal in ihrem zwanzigjährigen Leben in einem Tunnel geküsst worden. Sie stand auf, um in den braun gefleckten Spiegel zu schauen, der über dem gegenüberliegenden Sitz angebracht war, wobei sie eine kleine Bewegung machte, von der sie selbst nicht hätte sagen können, ob sie beabsichtigt war. Mit geschicktem Griff zog sie den Rock nach unten und prüfte die Strumpfnähte.
»Bravo!«, rief der Küssende aus dem Tunnel. Seine Stimme war kräftig, der bewundernde Pfiff männlich. Das schrille Pfeifen der Lokomotive verschreckte die Spatzen auf den Telegrafenstangen. Sie flogen zu den Wolken, doch kehrten sie umgehend zur Erde zurück. Mademoiselle Sternberg dachte an den Wellensittich ihrer Kindertage, von dem sie geglaubt hatte, er wäre der einzige Lebensbegleiter, den sie je brauchen würde. Sie streichelte zärtlich ihre Hutkrempe und leckte ihre Lippen feucht.
»Mein Hut, der hat
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