02 - Hinter goldenen Gittern - Ich wurde im Harem geboren
antwortete ich.
„Und sie wollte hier nie weg?“ Das ungläubige Erstaunen in ihrer Stimme entging mir nicht. „Hätte sie denn nicht gehen können? Wurde sie etwa hier festgehalten?“
Was hatte meine deutsche Schwester nur für eine Vorstellung von einem afrikanischen Harem! „Alle Frauen lebten und leben freiwillig hier“, sagte ich.
„Wir sind eine große Familie!“ Ich erklärte Magdalena, dass wir alle diesen Ort liebten, weil er jahrzehntelang vor allem ein Hort des Friedens gewesen war. Die Sorgen der Menschen blieben ausgesperrt. Hier konnten wir ungezwungen lachen, spielen, uns Geschichten erzählen und füreinander da sein. Im Harem meines Vaters hatte nicht nur ich viele unbeschwert glückliche Kindheitsjahre verbracht. Ich dachte immer, dass alle Familien so groß seien wie unsere.
Manchmal waren wir über hundert. Ebenso war ich davon überzeugt, dass jedes Kind zwanzig Mütter habe - oder zumindest Frauen, zu denen es Mama sagen kann. Und dass jede dieser Mamas für einen da sein müsse.
Viel Zeit war seitdem vergangen. Ich wusste inzwischen, dass die Welt so nicht war. Mein Vater hatte diese Welt für uns erschaffen, doch unser Paradies hinter den hohen weißen Mauern war zerbrochen. Wie ein buntes Glas, das auf harten Zementboden fällt und dessen Scherben sich überall verstreuen. So wie die bunten Splitter, die die Krone unserer Mauern zierten. Als ich einmal sah, wie sie im Sonnenlicht glitzerten, hielt ich sie für tausend kleine Sterne, die vom Himmel gefallen waren, um mich und meine Schwestern zu beschützen.
Vor vielen Jahren, als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte Mutter mir den Sinn der Glasscherben auf den Mauern rings um den Harem erklärt. Niemals hatte ich den Wunsch verspürt, auf die andere Seite zu klettern, um nachzusehen, was sich dort befinden mochte. Keine meiner Spielgefährtinnen wäre auf den Gedanken gekommen, so etwas zu tun. Zwischen den hohen Mauern, das war unsere Welt. Damals reichte mir diese Welt vollkommen.
Dass ich den Harem irgendwann mit ganz anderen Augen sehen musste, davon sagte ich meiner Schwester vorerst nichts. Schließlich war es unser erster Abend.
Es klopfte. Mama Ada schob den Kopf zur Tür herein. „Ich habe von unten gesehen, dass bei euch noch Licht brennt“, sagte sie. „Wollt ihr eurer Mutter einen letzten Besuch abstatten?“
Mit ihrem Tod war Mutter dorthin zurückgekehrt, wo ihr Leben im Harem begonnen hatte - in das Haus meines Vaters. Ein Raum in diesem Haus, in dem mein Vater auch vor Jahren starb, war einst extra für ihn so hergerichtet worden, dass er die letzte Phase seiner Krankheit leichter ertragen konnte. Nun lag Mutter dort. Die kalte Stille in dem Raum, die so gar nicht zu der warmherzigen Stimmung des Fests draußen passte, legte sich eisig um mein Herz.
Die Tote sah aus, als ob sie eben erst eingeschlafen wäre. Mama Felicitas und Mama Party hatten sich viel Mühe gegeben, damit wir unsere Mutter als eine Frau von würdevoller Schlichtheit in Erinnerung behalten konnten. In ihrer für die Ewigkeit
geschminkten Schönheit, gehüllt in weißes Tuch, das nur ihr Gesicht freiließ, wirkte sie irgendwie entrückt. Meine Schwester trat stumm an den offenen Sarg, an dessen Kopfende zwei violette Kerzen brannten. Die Muskeln in Magdalenas Gesicht arbeiteten. Ein Vierteljahrhundert lang war sie ihrer Mutter nicht mehr so nah gewesen wie in diesem Augenblick.
„Soll ich euch allein lassen?“, fragte ich. Als sie stumm nickte, ging ich hinaus.
Einige Zeit später gesellte sie sich zu mir; ihr Gesicht war verweint.
„Ich glaube, sie hat mir verziehen“, sagte Magdalena.
„Was musste sie dir denn verzeihen?“
„Dass ich sie zurückgewiesen habe. All die Jahre. Wann immer sie nach Deutschland kam, bin ich ihr stets aus dem Weg gegangen. Ich habe Mutter nie eine Chance gegeben, mir zu erklären, warum sie hier in Nigeria leben wollte.
Ich war so selbstsüchtig. Dachte nur an meinen eigenen Verlust.“
„Hat Mutter denn nie gefragt, ob du nicht nachkommen willst nach Afrika?“
Gedankenverloren sahen wir den Frauen zu, die zum Klang der Trommeln einen Tanz aufführten. Noch immer hatte Magdalena mir nicht geantwortet. „Doch, sie hat mich schon gefragt. Ich glaube, jedenfalls. Später riss dann der Kontakt über Jahre hinweg ab.“ Magdalena nahm meine Hand. „Was weißt du eigentlich über das Leben unserer Mutter, bevor sie deinen Vater geheiratet und dich bekommen hat?“
„Sie hat nicht oft
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