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02_In einem anderen Buch

02_In einem anderen Buch

Titel: 02_In einem anderen Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasper Fforde
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löschte
    die Positionslichter und ließ uns mit der Strömung treiben.
    »Na, wie wär's mit einem Sandwich und einer warmen Suppe?« fragte Miss Havisham und inspizierte den Inhalt des
    Picknickkorbs.
    »Danke, Ma'am.«
    »Willst du meinen Schokoladenkeks haben?«
    »Nein danke. Ich wollte Ihnen gerade meinen anbieten.«
    Wir hörten die Gefängnisschiffe, lange bevor wir sie sahen:
    das Husten und Fluchen der Männer und gelegentlich einen
    Ausruf voller Schmerz oder Angst. Miss Havisham ließ den
    Motor wieder an und steuerte uns mit geringer Fahrt auf die
    Geräusche zu. Dann teilten sich die Nebel und eine hohe
    schwarze Bordwand ragte vor uns aus dem Wasser, die nur von
    den Öllampen erhellt war, die hinter den Geschützpforten
    glimmten. Das alte Kriegsschiff lag fest vertäut in der Strömung,
    und in den rostigen Ankerketten, die am Bug und am Heck
    festgemacht waren, hatte sich reichlich Treibholz und Unrat
    verfangen. Nachdem sie den Namen des Schiffes überprüft
    hatte, drosselte Miss Havisham den Motor noch weiter herunter, und wir trieben fast lautlos an der Seite des Schiffes entlang.
    Ich musste den Bootshaken einsetzen, damit wir nicht mit dem
    schweren Rumpf kollidierten. Die Geschützpforten waren weit
    oben und unerreichbar für uns, aber nach ein paar Metern
    stießen wir auf einen rohen, aus alten Seilen und Tüchern
    zusammengeknoteten Strick, der aus einer Luke herabhing.
    »Das muss es sein«, flüsterte ich. »Was machen wir jetzt?«
    Miss Havisham brachte das Boot herum, bis es in der Strömung nahezu stillstand, und zeigte auf den Rettungsring, den
    wir mitgebracht hatten.
    Es war gar nicht so einfach, den Rettungsring an dem Strick
    festzubinden, den Magwitch für seine Flucht nutzen würde, und
    einmal wäre ich fast ins Wasser gefallen. Aber schließlich gelang
    es.
    »Das ist alles?« fragte ich.
    »Ja«, sagte Miss Havisham. »Ist gar nicht so schlimm, oder?
    Halt! Schau dir das an!«
    Sie zeigte auf die Bordwand, wo ein eigenartiges Wesen an
    einer der Stückpforten hing. Es hatte große, fledermausähnliche
    Flügel, die unordentlich über seinen fellbedeckten Rücken
    herabhingen. Das Gesicht ähnelte mit seinen großen traurigen
    Augen dem eines Fuchses, wenn man von dem langen, dünnen
    Schnabel absah, den es tief in das Holz der Bordwand gebohrt
    hatte. Es schien uns nicht bemerkt zu haben, sondern saugte mit
    kräftigem, leisem Schmatzen.
    Miss Havisham hob ihre Pistole und schoss. Die Kugel schlug
    dicht neben dem eigenartigen Wesen ins Holz. Es stieß ein
    erschrockenes Gackern aus, entfaltete seine Flügel und flog
    davon in die Nacht.
    »Verdammt!« sagte Miss Havisham und steckte ihre Waffe
    wieder ein. »Daneben!«
    Der Lärm hatte die Wachen an Deck alarmiert. »Wer da?«
    schrie jemand herunter. »Im Namen des Königs, gebt euch zu
    erkennen, sonst spürt ihr das Blei aus meiner Muskete!«
    »Sergeant Wade? Ich bin's, Miss Havisham, im Auftrag von
    Jurisfiktion«, rief Miss Havisham ärgerlich.
    »Entschuldigen Sie«, erwiderte der Wärter. »Wir haben einen
    Schuss gehört, Miss Havisham.«
    »Das war ich«, schrie Miss Havisham. »Ihr habt Grammasiten auf eurem Kahn.«
    »Wirklich?« sagte der Wärter und beugte sich über die Reling. »Ich seh gar nichts.«
    »Jetzt sind sie natürlich weg, du Schlafmütze«, sagte Miss
    Havisham mehr zu sich selbst. Laut rief sie: »Passen Sie in
    Zukunft besser auf! Wenn wieder welche auftauchen, machen
    Sie mir bitte gleich Meldung!«
    Sergeant Wade versprach es und zog sich zurück.
    »Was um Himmels willen ist ein Grammasit?« fragte ich und
    sah mich ängstlich um. Ich wollte dem gespenstischen Wesen
    nicht noch einmal begegnen.
    »Eine parasitäre Lebensform im Inneren von Büchern, die
    sich von Wörtern ernährt«, sagte Miss Havisham. »Ich bin
    keine Expertin, aber das Exemplar, das eben weggeflogen ist,
    sah wie ein Adjektiv-Fresser aus. Siehst du die Geschützpforte,
    an der es gesessen hat?«
    »Ja.«
    »Kannst du sie mir beschreiben?«
    Ich sah die Stückpforte an und runzelte die Stirn. Ich hätte
    erwartet, dass sie alt, dunkel, hölzern, abgesplittert, verrottet,
    nass oder sonst irgendwas wäre, aber sie war nicht mal leer oder
    nichtssagend, es war einfach nur eine Stückpforte, nichts mehr
    und nichts weniger.
    »Die Adjektivoren ernähren sich von beschreibenden Adjektiven«, erklärte Miss Havisham, »aber das Substantiv lassen sie
    meistens in Ruhe.«
    »Ist das nicht in manchen Fällen ganz nützlich?«

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