Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
Er wollte den Jungen nicht einfach so hängen lassen. »Lies die Zeitung, Teddy. Wenn wir den Mann haben, der Joy Sinclair ermordet hat, dann weißt du, daß wir auch den Mörder deiner Mutter haben.«
    »Wird er für den Mord an meiner Mutter auch bestraft, Inspector?«
    Lynley erwog zu lügen, um dem Jungen eine weitere unerfreuliche Realität zu ersparen. Aber als er in das offene, gespannte Gesicht sah, wußte er, daß er das nicht konnte. »Nur wenn er ein Geständnis ablegt, Teddy.«
    Der Junge nickte, bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Keine Beweise, hm?« sagte er bewußt lässig.
    »Keine Beweise. Aber es ist derselbe Mann, Teddy, glaub mir.«
    Der Junge wandte sich wieder dem Fernsehgerät zu. »Ich erinnere mich nur noch ganz düster an sie.« Er drehte an einem der Knöpfe, ohne das Gerät einzuschalten. »Hoffentlich erwischen Sie ihn«, sagte er leise.

    Anstatt erst in Mildenhall anzuhalten, wo er dann vielleicht doch keine öffentliche Bibliothek gefunden hätte, fuhr Lynley direkt nach Newmarket; er wußte, daß es dort eine gab. Allerdings fand er das Gebäude erst um Viertel vor fünf, nach erbittertem Kampf mit dem Spätnachmittagsverkehr. Er parkte verkehrswidrig, ließ seinen Dienstausweis im Fenster und hoffte das Beste. Es hatte zu schneien angefangen, jede Minute war wichtig, wenn er noch unter halbwegs annehmbaren Bedingungen die Rückfahrt nach London antreten wollte. Das alte Theaterprogramm in der Tasche, eilte er die Stufen zur Bibliothek hinauf.
    Es roch nach Bohnerwachs und verstaubtem Papier. In einem großen Raum mit hohen Fenstern und dunklen Bücherregalen stand hinter einer U-förmigen Theke ein korrekt gekleideter Mann mit Brille und speiste Informationen in einen Computer ein, der in dieser antiquierten Umgebung völlig fehl am Platz wirkte.
    Lynley ging zum Katalog und suchte nach Tschechow. Fünf Minuten später saß er mit einem Exemplar von Drei Schwestern an einem der langen, mit Leselampen ausgestatteten Tische. Er schlug das Buch auf und fing an zu suchen, indem er den Text hastig überflog, von jeder längeren Rede immer nur die erste Zeile las. In der Mitte des Stücks jedoch wurde ihm klar, daß die Stelle aus Hannahs Abschiedsbrief wahrscheinlich irgendwo aus einer Rede herausgerissen worden war, und er begann noch einmal von vorn. Immer wieder fühlte er sich versucht, wild darauf loszublättern, weil ihm die Gewißheit im Nacken saß, daß die Fahrt nach London, je länger sie sich hinauszögerte, bei diesem Schneetreiben eine Tortur werden würde. Doch er zwang sich zu Gründlichkeit, und nach einer halben Stunde fand er die Passage etwa in der Mitte des vierten Akts. Er las den ganzen Text zweimal aufmerksam durch.

    Was für Lappalien, was für dumme Kleinigkeiten manchmal doch im Leben Bedeutung gewinnen, auf einmal, ohne jeden Grund. Man lacht über sie wie früher, hält sie für Lappalien, und trotzdem geht man und fühlt, daß man nicht die Kraft hat stehenzubleiben. Oh, wollen wir nicht davon reden! Ich bin froh. Wie zum ersten Mal im Leben sehe ich diese Tannen, Ahorne, Birken, und alles blickt auf mich voll Neugierde und wartet. Was für schöne Bäume, und was muß das im Grunde für ein schönes Leben in ihrer Nähe sein. Ich muß gehen, es ist Zeit ... Dieser Baum hier ist vertrocknet, aber trotzdem wiegt er sich mit den andern zusammen im Winde. So werde ich, wenn ich auch sterbe, dennoch so oder so am Leben teilnehmen. Leb wohl ... Die Papiere, die du mir übergeben hast, liegen bei mir auf dem Tisch unterm Kalender.

    Die Worte waren nicht einer der Frauen in den Mund gelegt, wie Lynley ursprünglich vermutet hatte, sondern einer der Männer, Baron Tusenbach, richtete sie an Irina. Lynley zog das alte Programmheft aus seiner Tasche, schlug es beim Verzeichnis der Mitwirkenden auf, fuhr die Liste mit dem Finger herunter und fand, was er gefürchtet - und gehofft hatte. Rhys Davies-Jones hatte damals, in jenem Winter 1973 den Tusenbach gespielt, Joanna Ellacourt die Irina, Jeremy Vinney den Ferapont und Robert Gabriel den Andrej.
    Dies war endlich die Bestätigung, die er gesucht hatte. Denn wer konnte besser wissen, wie ein bestimmter Text sich verwenden ließ, als der Mann, der ihn Abend für Abend gesprochen hatte? Der Mann, dem Helen vertraute. Der Mann, den sie liebte und für unschuldig hielt.
    Lynley stellte das Buch wieder an seinen Platz und machte sich auf die Suche nach einem Telefon.

15
    Den ganzen Tag trug

Weitere Kostenlose Bücher